Kuno, Schmuno: Warum ein Fake die Sonderpädagogik erschüttert
In der neuesten Ausgabe der Zeitschrift für Heilpädagogik berichten Katja Koch und Stephan Ellinger über die Evaluierung eines Förderprogramms für benachteiligte Kinder. Das Besondere an diesem Forschungsbericht ist, dass ihn die beiden komplett frei erfunden haben. Alles erstunken und erlogen, inhaltsleere Textpassagen, unsinnige Fakten – die Wogen schlagen hoch. Weder existiert das Trainingsprogramm „Kuno bleibt am Ball“ zur mathematischen Förderung von Vorschulkindern, noch wurde es wirklich evaluiert. Aber der Bericht klingt gut – psychiatrisch angehaucht, empirisch, mit Verweisen auf alle großen Stichworte und Studien. Und genau darum ging es den Autoren: um die unkritische Akzeptanz dieser Art Fachbeiträge.
Natürlich ist die Aktion von Prof. Dr. Katja Koch und Prof. Dr. Stephan Ellinger aus Sicht der „Zeitschrift für Heilpädagogik“ und ihrer Herausgeber höchst ärgerlich und peinlich. Und man kann sicher auch unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob ein solches Vorgehen der angemessene Weg ist, auf einen Missstand hinzuweisen. Ebenso ist die Sorge zu verstehen, dass auf diese Weise das Ansehen einer renommierten Fachzeitschrift und mit ihr vielleicht sogar das der gesamten Sonderpädagogik beschädigt wird.
Dessen ungeachtet sollte man sich jedoch die Mühe machen, die Motive und das Anliegen der beiden zu verstehen. Deshalb haben wir mit ihnen gesprochen und möchten hier einiges über ihren „gefaketen“ Artikel erklären:
Katja Koch und Stephan Ellinger möchten, dass dieser Artikel als eine Art Experiment verstanden wird, mit dem sie etwas beweisen oder, besser gesagt, mit dem sie auf eine besorgniserregende Entwicklung in der sonderpädagogischen Forschung aufmerksam machen möchten:
Aus sonderpädagogischen oder heilpädagogischen Fachbeiträgen, so glauben die beiden, werden sukzessive zentrale Begriffe, Inhalte und Erklärungsansätze entfernt. Ersetzt werden sie durch fachfremde Auffassungen und Forschungsmethoden, die angeblich im (inter-)nationalen Wissenschaftsbetrieb größere Anerkennung finden und deshalb zugleich der eigenen Berufskarriere dienlicher sind. Durch eine allzu bereitwillige Übernahme von Wissenschaftsstandards aus den Nachbardisziplinen wie zum Beispiel der Psychologie und der Medizin kommt es zu einer Entkernung oder Aushöhlung des eigenen Faches. Die Heilpädagogik läuft Gefahr, durch den Absolutheitsanspruch der empirisch-quantitativen Forschung ihre theoriegeleitete und theoriegenerierende Forschungstradition zu verlieren. Das stellt eine Aushöhlung des Faches dar, weil diese Forschungstradition der heilpädagogischen Praxis eher entspricht, dem heilpädagogischen Handeln angemessener erscheint als medizinische oder psychologische Vorgehensweisen.
Weil dieses Vorgehen inzwischen so weit verbreitet zu sein scheint, dass es viele Kollegen als normal und „State of the Art“ betrachten, kamen Koch und Ellinger zu der Auffassung, dass außergewöhnliche Zeiten außergewöhnliche Maßnahmen erfordern. Ihre waghalsige Idee: Legt man einen Zeitschriftenbeitrag vor, der der empirisch-quantitativen Forschungslogik folgt und die wichtigsten Zutaten solcher Studien enthält, wird er mit großer Wahrscheinlichkeit in einer Fachzeitschrift veröffentlich – und zwar auch dann, wenn das beschriebene Forschungsvorhaben aus theoretischer Perspektive, also im Lichte heilpädagogischer Theorien, zum Großteil überhaupt keinen Sinn macht. Sie waren nämlich überzeugt davon, dass eine empirisch-medizinische Auffassung schon so sehr als Garant für Qualität betrachtet wird, dass eine Qualitätsprüfung anhand „klassischer“ sonderpädagogische Auffassungen gar nicht mehr stattfindet. Und genau das ist passiert.
Zur Erläuterung für Nicht-Wissenschaftler: Reicht man einen Artikel bei einer Fachzeitschrift ein, wird dieser von Fachleuten auf seine wissenschaftliche Qualität hin geprüft. Aufgrund dieser Begutachtung wird der Artikel dann zu Veröffentlichung angenommen oder abgelehnt oder, was meistens der Fall ist, zur Überarbeitung zurückgegeben. Sind die Gutachter dann mit der Überarbeitung zufrieden, wurden ihre Ratschläge, ihre kritischen Anmerkungen beherzigt, empfehlen sie ebenfalls die Veröffentlichung.
Der gefakte Artikel ist in der neuesten (Print-)Ausgabe der „Zeitschrift für Heilpädagogik“ zu finden, wurde aber inzwischen von der Redaktion sogar aus dem online verfügbaren Inhaltsverzeichnis entfernt und wird z.Zt. ohne weitere Erklärung über die Intention der Autoren in äußerst negativem Licht als „Fälschung“ dargestellt. Detaillierte Erläuterungen der Autoren zum Ziel und Vorgehen ihres „Experiments“ – also quasi die „Auflösung“- sind hier nachzulesen. Zeitgleich ist ein weiterer Artikel von Katja Koch und Stephan Ellinger in der Zeitschrift „Sonderpädagogischer Förderung “ erschienen, wo sich die beiden in Form einer Satire mit der gleichen Problematik auseinandersetzen. Wir hoffen, dass die fällige Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Problem in der Sonderpädagogik jetzt nicht ausbleibt.