Warum liest mein Kind zu langsam?
Hier geht es um die Kinder, die (noch) zu langsam lesen. Langsam ist nicht gleich langsam. Es gibt wichtige Unterschiede in der nächsten Zone der Entwicklung und damit in den nächsten Lernschritten und Fördermöglichkeiten.
(Wenn Sie selbst sich die Analyse des Lesens nicht zutrauen, können Sie hier unkompliziert unseren professionellen Service buchen und eine Einschätzung samt persönlichem Förderplan erhalten.)
Grundsätzlich lassen sich die langsamen Leser Kinder praktikabel in drei große Gruppen einteilen:
1. Kinder, die nicht unbedingt alle Grapheme (also Buchstaben und mehrbuchstabige Zeichen wie sch, ie, au…) sicher schnell benennen können und die noch Probleme beim Verbinden der Grapheme zu Sprechsilben haben. Wenn ein Kind sich im ersten Halbjahr der ersten Klasse befindet, ist das noch normal. Schüler höherer Klassen zeigen einen Rückstand, wenn sie noch hiermit zu kämpfen haben. Sie befinden sich noch auf der sogenannten alphabetischen Stufe, obwohl sie schon weiter sein sollten. Diese Kinder lesen in der Regel noch deutlich unter 20 Wörter pro Minute.
2. Kinder, die die alphabetische Stufe hinter sich gelassen haben, aber noch sehr langsam darin sind, die Sprechsilben zu Wörtern zusammenzusetzen. Das Kind befindet sich in der Bewältigung der sogenannten morphematischen oder orthographischen Stufe. Das wirkt sich auch auf die Rechtschreibung aus, da diese Kinder Morpheme (die Wortbausteine wie Endungen, Vorsilben, Wortstamm, auf die sich die Rechtschreibregeln meist beziehen) nicht so anstrengungsfrei erfassen können, wie es nötig wäre, um über die Funktion der Morpheme nachdenken und sprechen zu können. Wenn Kinder in höheren Klassen noch auf dieser Stufe sind, entstehen so Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben. Das Problem kann sich verschlimmern, wenn das Kind über einen sehr kleinen Wortschatz verfügt und/oder in der mündlichen Sprachentwicklung, z.B. in der Wortbildung, Schwierigkeiten hat. Denn dann dauert es besonders lange, bis es erkannt hat, welches Wort die Laute bilden. Auch eine niedrige Intelligenz kann es erschweren, die Wortbestandteile zu begreifen oder den Sinn eines Satzes zu erfassen. Kinder dieser Stufe lesen in der Praxis deutlich unter 50 Wörter pro Minute.
3. Kinder, die auch die morphematische Stufe beherrschen, aber noch nicht genug Routine in allen Teilvorgängen des Lesens besitzen. Bei ihnen sollte man zur Sicherheit nachprüfen, ob einzelne Grapheme (Buchstaben und mehrbuchstabige Schriftzeichen) noch nicht zuverlässig abgespeichert sind. Wenn man herausfindet, ob das Kind Schwierigkeiten mit längeren Wörtern und Wörtern mit aufeinanderfolgenden Konsonanten hat, kann dies das Ausmaß der Probleme und die Zone der nächsten Entwicklung klären helfen. Kinder dieser Stufe lesen mehr als 50 WPM, aber noch deutlich unter 150.
Zu allen drei Stufen, besonders aber zur 2. und 3., können typische schlechte Lesegewohnheiten hinzukommen wie der häufige Regress durch Unkonzentriertheit, das halblaute, verlangsamende Mitsprechen (auch ein Zeichen für mangelnde Routine), das Verwenden des Fingers zur Orientierung etc.
In den nächsten Artikeln werde ich erläutern, wie man die Kinder auf diesen drei Stufen konkret fördern kann. Gute Kinderbücher zur Anwendung finden Sie auf meiner Praxisseite in der Kinderbibliothek.
Weiterlesen:
Dieser Artikel ist Teil einer Reihe. Alle Teile des Themenblocks „Lesegeschwindigkeit“ finden Sie, wenn Sie dieses Schlagwort im Suchfeld eingeben, oder über folgende Liste:
Teil 1: Warum sollte man 150 Wörter pro Minute lesen können?
Teil 2: Wie schnell sollte ein Kind in welchem Schuljahr lesen?
Teil 3: Flüssig lesen kommt von selbst – oder?
Teil 4: Was passiert ohne Leseförderung?
Teil 5: Wie misst man die Lesegeschwindigkeit (WPM) sinnvoll?
Teil 6: Was sagt ein Lesegeschwindigkeits-Test aus?
Teil 7: Warum liest mein Kind zu langsam?
Liebe Frau Stiehler,
Ihre Ausführungen zur Leseförderung sind sehr interessant. Ich (als Bibliothekarin) erlebe häufig, dass den Kindern nahe gelegt wird mehr zu „üben“ – aber eben ohne konkrete Anleitung oder Hilfestellung. Eine mühselige Sache.
Deswegen warte ich gespannt auf die weiteren Ausführungen, was bei Leseproblemen weiterhilft.
Das würde uns vielleicht auch dabei helfen, sinnvolle Lesetipps zu geben.
Die Verlage überbieten sich ja mit unterschiedlichen Angeboten, die das Lesen besser, leichter, motivierender gestalten wollen (z.B.: farbig markierte Silben, ausschließlich Großbuchstaben, groß gedruckter und klein gedruckter Text zum abwechselnden Lesen von Kind + Elternteil). Was davon löst wirklich sein Versprechen ein? Wir sind daran interessiert, den Kindern wirklich auch Erfolgserlebnisse zu verschaffen.
Dass die Lesefähigkeit oder deren Fortschritt in den Schulen gemessen würde, ist mir allerdings auch noch nie begegnet.
Herzlich
Katrin Steuten
Liebe Frau Steuten,
es klingt toll, dass Sie als Bibliothekarin sich so sehr für Leseförderung interessieren. Gibt es in Ihrer Bibliothek besondere Angebote für Kinder? Das habe ich meinerseits so noch nirgends gesehen. Erzählen Sie doch mehr davon!
Zu den Angeboten der Verlage: Ich würde gerne demnächst aus Ihrer Frage und meiner Antwort einen kleinen Artikel machen, aber hier ersteinmal knapp meine Erfahrung.
Allzu große Schriften hemmen den Lesefluss eher, da die Blickspanne (in cm) nur wenige Wörter erfassen lässt, selbst wenn die geistigen Verarbeitungskapazitäten eigentlich mehr Inhalt pro Sakkade zuließen. Daher bin ich kein großer Fan dieser Erstklassbücher. Außerdem verzerrt der Satz vieler moderner Bücher m.E. die Einschätzung der eigenen Leseleistung: Wer früher einen Band „Fünf Freunde“ gelesen hat, muss heute etwa 3 Bände „Magisches Baumhaus“ lesen, um gleich viel Text gelesen zu haben. Kind und Eltern denken aber, es wurde ja ein ganzes Buch „geschafft“. Das führt auf Dauer zu einer Nivellierung der Ansprüche – und Leistungsfähigkeit – nach unten. Der Verlag verkauft so für gleichviel Inhalt heute 3 Bücher statt früher 1…
Farbige Silben: Das Silbenkonzept liegt stark im Trend. Ich halte es für wenig hilfreich. Richtig daran ist die Idee, Wörter zu segmentieren. Silben halte ich für die falsche Einheit, da sie keine sinntragenden Einheiten sind und auch für die Rechtschreibung fast keinen Beitrag leisten. Morpheme wären die wesentlich sinnvollere Einheit. Also z.B. nicht „Hun-de-fut-ter“ (das suggeriert auch noch fälschlich, man könnte das Doppel-t hören, wenn man gut aufpasst), nicht „Nach-rich-ten-sen-dung“, nicht „Ei-sen-bahn-ver-spä-tung“ sondern eine Trennung nach Präfixen, Stamm, Verbindungsmorphemen und Endungen: „Hund-e-futt-er“, „Nach-richt-en-send-ung“, „Eisen-bahn-ver-spät-ung“. Das sind die Teile, die man auch beim Lesen abtrennt, und deren Training die Rechtschreibung verbessert. Man denke z.B. an die Ableitungsregeln vom Wortstaum (fallen – er fällt…) oder Fehler mit „fer-“ statt „ver-„. Also: Wenn schon mehrfarbig, dann in Morphemen.
Als Ganztext halte ich das aber generell für problematisch; lieber im Unterricht die Wortbausteine intensiv vorstellen und trainieren, so dass sie beim Lesen von selbst erkannt werden.
Nur Großbuchstaben mögen Erstklässlern in den ersten zwei Wochen Erfolgserlebnisse bringen. Aber die charakteristische Form und Gestalt von Wörtern, die beim unbewussten Erkennen hilft, entsteht gerade durch den Wechsel von Groß- und Kleinbuchstaben (zumindest in lateinischen Schriften).
Ich hoffe, das beantwortet fürs Erste Ihre Fragen. Am Ende läuft es darauf hinaus, dass die seit Jahrhunderten als lesefreundlich aufgefassten Serifenschriften sehr gut geeignet sind (auch wenn angeblich eigene Legasthenie-Fonts helfen sollen; dazu kenne ich keine belastbare Studie – Leseschwache mögen es allerdings, wenn Schrift so aussieht wie die Druckschrift, die sie in der Schule lernen, da sie noch zu wenig Routine darin haben, die wichtigsten Merkmale der Buchstaben zu abstrahieren und sie so auch in anderen Schriften zu erkennen). Die typographischen Grundregeln (z.B. keine Fonts mit verwirrender Verbindung von ft, lft etc.) sind wichtig und werden manchmal vernachlässigt. Ein ganz normales Buch ist ein ziemlich gutes Buch 🙂
Schöne Feiertage und frohe Weihnachten wünscht
Dr. Miriam Stiehler
Sehr geehrte Frau Stiehler
Mit großem Interesse bin ich auf Ihre Ausführungen gestoßen. Da mein Kind in der 3. Klasse auch mit zu den langsamsten Lesern gehört, ich aber keinerlei Hilfestellung von Seiten der Schule bekomme, fördere ich ihn so gut es geht selbst. Die Eingruppierung in WPM erscheint mir sehr sinnvoll. Das werde ich gleich testen.
Haben Sie schon wie oben im Artikel angekündigt einen weiteren Artikel zur richtigen Leseförderung je nach Lesestufe veröffentlicht? Ich finde ihn in Ihrem Blog leider nicht. Denn gerne würde ich dann damit auch beginnen.
Und noch etwas: Auch mein Sohn liest beim stillen Lesen halblaut mit. Sollte man das einfach versuchen zu unterbinden?
Ich danke Ihnen sehr für die höchst informativen Seiten.
Mit freundlichen Grüßen
Kirsten
Liebe Frau Stiehler,
ich habe mit großem Interesse Ihren Blog zum Thema „Lesen“ studiert. Zum ersten Mal, dass ich mal konkrete Anhaltspunkte dazu im Internet finde.
Unser Sohn hat seit der ersten Klasse Schwierigkeiten mit dem Lesen. Nur durch viel private Förderung zu Hause habe ich es geschafft, dass er sich mittlerweile einigermaßen durchkämpft. Da ihm das Lesen so schwer fiel, musste ich in der ersten Klasse täglich erstmal lange mit ihm diskutieren, bevor wir überhaupt das Üben anfangen können. Die Probleme haben wir zum Glück jetzt nicht mehr. Wir üben täglich mind. 10 Minuten. Aber jetzt in der 3. Klasse fällt es ihm immer noch nicht leicht. Leider haben wir jährlich eine neue Klassenlehrerin bekommen (davon zwei Anfängerinnen / Referendarinnen), so dass von Seiten der Schule keinerlei Unterstützung kam. Mehr als ein: „Ihr Sohn liest noch zu schlecht“ kommt nicht.
Dank Ihrer Lesediagnostik habe ich nun herausgefunden, dass er durchschnittlich 67 WPM liest und 52 RWPM (8 Jahre, 3. Klasse, 2. Halbjahr).
Mir fällt auf, dass er gerne Wörter überliest oder falsche Wörter einsetzt. Auch die Endungen liest er nicht immer aus oder nicht sauber. Zusätzlich hat er Probleme mit Lauten wie „schl, br, pr, -teten, kl, ie und ei werden gerne verwechselt,…“.
Von sich aus fängt er seit zwei Wochen an, sich mal ein Asterix-Heft zu greifen. Er liest darin still (liest jedoch mit Mundbewegung). Durchaus auch lange (40 min) und wenn ich ihn per Antolin abfrage, dann kann er die Fragen auch richtig beantworten. Ich weiß, das Asterix nicht die optimale Lektüre ist, aber ich bin froh, dass er überhaupt von sich aus mal zu einem Lesestoff greift.
Gerne würde ich nun mit ihm richtig üben, so dass ich auf mindestens 100 WPM (3. Klasse) komme, wie von Ihnen empfohlen. Leider finde ich in Ihrem Blog keinen Hinweis, wie es nun nach der Diagnostik weitere gehen sollte.
1) Was genau kann ich mit meinem Sohn tun, um ihm zielgerecht zu helfen?
2) Sollte ich ihm die Mundbewegung beim stillen Lesen untersagen oder gibt sich das später von alleine?
3) Und muss ich ihn wegen Legasthenie testen lassen? Unsere Klassenlehrerin hat nichts diesbezüglich gesagt. Allerdings ist sie auch nicht sehr erfahren als Referendarin.
Über eine Rückmeldung wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Mit schönen Grüßen
Kirsten
Liebe Kirsten,
herzlichen Dank für Ihr Interesse und Ihre Fragen. Sie mussten aufgrund der Osterferien ein wenig auf unsere Antwort warten. Zunächst einmal: Toll, dass Sie die Einschätzung der Lesegeschwindigkeit bei Ihrem Sohn so gut hinbekommen haben! Die Geschwindigkeit ist tatsächlich bedenklich für einen Drittklässler, aber Verbesserung ist machbar. Sie haben Recht, es steht noch ein Artikel zu typischen Leserfehlern aus; danke für die Erinnerung, ich werde mich in den nächsten Monaten um mehrere entsprechende Texte kümmern. Sie haben aber Druck, also hier ein paar knappe Tipps (für eine detaillierte und individuelle Betreuung würde ich Sie zu einer telefonischen Einzelberatung bitten, da das jenseits der Möglichkeiten eiens Blogs liegt; Sie können mich unter info@wissenschaffer.de gerne kontaktieren).
Mundbewegungen: Sind bei diesem Tempo recht normal, sollten über 120 WPM verschwinden, zeigen das halblaute Mitsprechen und damit die bestehende Verwendung des phonologischen Feedbacks und die mangelnde Automatisierung. Manchen Kindern hilft es, beim Lesen ein Bonbon zu lutschen, um sich das abzugewöhnen. Die Bewegungen sind aber Folge, nicht Ursache der fehlenden Kompetenz.
Asterix: Besser als nix, aber zum schnellen Lesen braucht man Fließtexte, um auch die Orientierung in der Zeile zu üben und die Blickspanne zu erweitern. Aus Sicht der Lernerziehung bieten Comics ein zu billig zu habendes Erfolgserlebnis. Seien Sie sich im Klaren, dass Ihrem Sohn lesen jetzt noch kaum Spaß machen kann, es ist primär eine (lästige) Anstrengung bei seinem Tempo. Da muss er durch, damit es schön werden kann. Er braucht also Halt, d.h. sanftmütige Härte und konsequente Unterstützung, von außen, solange ihn die Freude an der Story und das flüssige Lesen noch nicht bei der Stange hält.
Ertragen Sie es, wenn er jammert, und versuchen Sie es mit folgendem Übungszyklus:
Täglich 5 Minuten Aufwärmübungen aus dem grünen Heft von „Lesen. Das Training 2. Klasse“. Optimal wäre es, ergänzend aus den Morphemen, die Ihr Sohn oft überliest, Karteikarten zu erstellen, die ganz kurz (0,5 Sek.) aufgedeckt werden (Hand drauf, weg, drauf), so dass er übt, diese Morpheme auf einen Blick zu erkennen.
Anschließend 5-10 Minuten Schnelllesetraining mit den blauen Heften (die Texte und das Konzept sind gut, die Zeitziele zu niedrig, aber dafür haben Sie ja unsere Tabelle).
Danach 30 Min. Lesen in einem Kinderbuch, am besten in gemütlicher Atmosphäre, z.B. bei einer Tasse Tee auf dem Sofa oder im Garten, während auch Sie etwas lesen. Schön auch, wenn abends die ganze Familie sich für 30 Min. zu solch einer Lesegemütlichkeit trifft, das zieht. Wichtig dabei: Achten Sie darauf, dass er nicht abschweift; beobachten Sie seinen Blick. Schweift er ab, tippen Sie mit dem Finger nur kurz auf die Buchseite und sagen Sie etwas wie „Hier geht es weiter, bleib bei der Sache“. Falls er etwas gar nicht versteht, helfen Sie ihm kurz. Halten Sie das durch; meine Klienten, die das tun, erreichen mit dieser Mischung Verbesserungen von 15-20 WPM pro Monat bei Kindern im gleichen Alter mit gleicher Ausgangslage.
Was die Buchauswahl betrifft: Keine zu große Schrift; aber etwas wie „Duell der Schwerter“ von Henning Ahrens ist für Jungs, die anfangen, schon ok. Die guten Bücher haben nunmal auch einen anspruchsvolleren Wortschatz und Satzbau, ab einem gewissen Punkt muss man da durch; schöne Erstlektüren sind z.B. „Das Wundermittel“ von Roald Dahl oder „Die Kinder aus Bullerbü“. Mehr finden Sie auf http://www.dr-stiehler.de/lesen-bildet
Überprüfen Sie monatlich den Zugewinn an WPM und lassen Sie uns wissen, wie es läuft!
Herzliche Grüße,
Dr. Miriam Stiehler
Liebe Frau Dr.Stiehler,
als (Deutsch)Kollegin und Mutter eines Kindes, dessen Schriftspracherwerb problematisch verlief ( und teils noch verläuft), habe ich großes Interesse an Ihren Tipps und Hinweisen.
Wie meine Vorrednerin hier bin ich sehr interessiert an konkreten Hinweisen zur Förderung – im vorangehenden Beitrag haben Sie Materialien empfohlen, die ich leider trotz Recherche nicht genau identifizieren kann – Lesen, grünes Heft 2.Klasse und blaue Hefte. Von wem konkret sind diese? Gerne möchte ich hier bei unserem heimischen Training ansetzen.
Im Übrigen habe ich bei meinem Sohn erfolgreich mit der IntraActPlus-App gearbeitet sowie dem Material von Gero Tacke (Flüssig lesen lernen). Interessant finde ich auch Ihre Beiträge zum Ansatz von Herrn Thomé – da werde ich sicherlich die Ferien nun nutzen, mich weiter zu informieren.
Vielen Dank schon mal!
Beste Grüße
Katrin Wullenkord
Liebe Frau Wullenkord,
mit dem grünen und blauen Heft meinen wir das Set „Lesen. Das Training“, das auch unter dem Artikel verlinkt ist. Sie finden es hier https://amzn.to/2w7ZM3H.
Einiges Material von Thomé finden Sie seit dieser Woche in unserem neuen Shop hier auf der Seite, schauen Sie doch mal vorbei!
Wir freuen uns, Sie weiter als Leserin bei uns zu begrüßen,
und wünschen Ihnen viel Erfolg in der Arbeit und mit Ihren Kindern!
Herzliche Grüße,
Dr. Miriam Stiehler
Sehr geehrte Frau Stiehler,
als Grundschullehrerin, der die Leseförderung sehr am Herzen liegt, stolpere ich regelmäßig über Ihre Artikel und ärgere mich regelmäßig darüber, weil kaum ein Artikel so ganz richtig im Gesamtzusammenhang funktioniert. Bei den Gründen für langsames Lesen fällt z.B. auf, dass Sie Wahrnehmungsstörungen (z.B. der Augen und Ohren) überhaupt nicht berücksichtigen. Überhaupt sind Leseschwierigkeiten nicht immer nur in „Problemen“ mit dem Leseprozess begründet. Das ist mit Verlaub eine sehr eingeschränkte Sichtweise. Auch Lesestrategien oder deren Nichtvorhandensein beachten Sie nicht. So bildet ein kompetenter Leser z.B. Vorerwartungen und sollte eben NICHT jedes Wort ganz genau lesen müssen um den Text zu verstehen. Gute Vorleser haben schon im Blick, was zwei Sätze weiter passieren wird, ohne es genau gelesen zu haben. Kinder die das nicht können, lassen sich von Lesefehlern viel mehr aus dem Konzept bringen.
Zu behaupten, die Silbe als Spracheinheit habe nichts mit Rechtschreibung zu tun, entbehrt jeder sprachwissenschaftlichen Grundlage und nur weil der Wortstamm bei wenigen, relativ leicht beherrschbaren Rechtschreibproblemen eine Rolle spielt, ist das sicher nicht die bessere „Einheit“, denn mit Leseproblemen hat dieser nur wenig zu tun, diese entstehen eher durch das Problem der schwer verständlichen Kennzeichnung von Lang- und Kurzvokalen.
Das Hauptproblem ist meines Erachtens aber die Fixierung auf das „schnelle“ Lesen. Flüssiges Lesen wäre sicher das sinnvollere Ziel. Schnelle Leser sind nicht zwingend „bessere“ Leser und auf das genaue Lesen kommt es höchst selten an. Es kommt viel mehr auf das Leseverständnis, den Lernzuwachs durch das Lesen und natürlich auch die Lesemotivation an. Wer sich ein wenig mit Lernen auf neurobiologischer Basis auskennt, der weiß dass z.B. die Aktivierung vieler Hirnareale das Lernen fördert und keineswegs ein Zeichen von Ineffizienz ist. Hochbegabte aktivieren z.B. oft viel mehr Hirnareale gleichzeitig als Normalbegabte. Desweiteren ist es gar nicht möglich das Tempo, in dem Informationen im Langzeitgedächtnis gespeichert werden, durch eine schnellere Informationsaufnahme zu steigern. Diese Informationen landen nur im Kurzzeitgedächtnis, weil immer nur sehr wenige Informationen auf einmal im Langzeitgedächtnis gespeichert werden können. Man kann sich das wie einen Flaschenhals vorstellen. Hat man die Informationen aber im Langzeitgedächtnis ist es für die Effizienz des Lernens zusätzlich wichtig, sie möglichst sinnvoll, strukturiert abzuspeichern und mit anderen Wissensinhalten zu vernetzen (dafür braucht es die Aktivität möglichst vieler Hirnareale). Was nun die Leseförderung angeht, so ist das gezielte Training von Lesegeschwindigkeit keine besonders gute Basis um eine dauerhafte Lesemotivation zu bilden. Wer das dennoch glaubt, hat von Themen wie Lesegratifikation noch nie etwas gehört. Kaum ein Mensch liest allein deshalb dauerhaft gerne, weil er durch Training seine eigenen Fortschritte (sofern diese die Anstrengungen überhaupt aufwiegen) erkennen kann. Lesen muss intrinsisch, emotional belohnt werden. Das Lesen an sich muss mit Lustgewinn verbunden werden und nicht das Training, sonst kann man nach dem Training ja damit aufhöre oder eben einfach weiter irgendwas trainieren, um wieder ein Erfolgserlebnis zu haben.
Entschuldigen Sie bitte meine Kritik an dieser Stelle, aber Sie wollen den Kindern doch helfen, oder? Dann ist ein anderer Blick auf das Thema sicher auch eine Anregung.
Liebe Inga,
herzlichen Dank für Ihren ausführlichen Kommentar, für den Sie offenbar viele Überlegungen angestellt haben. Man merkt, dass Ihnen die Lesefreude der Kinder am Herzen liegt, und zumindest diese Überzeugung teilen wir offenbar.
Ich stecke gerade mitten in der Arbeit an unserer Vorschulfibel, die vielleicht auch Ihr kritisches Interesse wecken wird, daher kann ich nicht ausführlichst auf jeden Ihrer Punkte eingehen. Zwei möchte ich aber herausgreifen: Die Freude am Lesen und das Silbenkonzept.
Es ist ein wertvoller Hinweis für mich, dass anscheinend bei manchen Bloglesern der Eindruck entstehen kann, Lesegratifikation wäre mir nicht wichtig. Das ist keineswegs so – wenn Sie z.B. meine Kinderbuchsammlung auf meiner eigenen Praxisseite ansehen (drstiehler.de/lesen-bildet), können Sie sich davon überzeugen, mit wieviel Herzblut und Liebe zur Kinderliteratur ich dieses Thema betrachte. Auch in den Artikeln hier betone ich immer wieder, dass es letztlich darum geht, die großartige Welt der Bücher zu entdecken – vielleicht betone ich es für kritische Augen wie Ihre zu wenig, bislang wäre mir das nicht aufgefallen. Eine etwas zurückhaltendere Art des Vorwurfs („Wer das dennoch glaubt hat von Themen wie Lesegratifikation noch nie etwas gehört“) hätte ich dennoch angemessen gefunden…
Der schnelle Leser, sagen Sie, liest nicht unbedingt lieber, und flüssiges Lesen sei wichtiger als schnelles, genaues sei oft nicht nötig. Dem möchte ich widersprechen. Die Bildung von Erwartungen an den Text geschieht auf der logischen Ebene, man rechnet damit, dass ein Satz auf bestimmte Art fortgesetzt wird. Gerade in diesem Punkt zeigt sich aber speziell bei langsameren Lesern – damit meine ich hier immer Leser deutlich unter Sprechgeschwindigkeit, also 150 WPM – ein großes Problem. Diese machen nämlich mangels Routine in der Worterkennung zahlreiche Lesefehler und verändern den Rest des Satzes abweichend vom Text so, dass er zu ihrer initialen Annahme, die sich aus dem Lesefehler ergeben hat, passt. So entstehen ganz wesentliche Missverständnisse und Schüler, die z.B. Fragen zum Text anschließend nicht richtig beantworten können.
Auch der Ihnen sicher geläufige Matthäus-Effekt zeigt, dass eine gewisse Mindestgeschwindigkeit im Lesen zum sicheren Lesen beiträgt – und dass folglich sichere, zügige Leser gerade wegen der dann möglichen stärkeren, emotional angenehmen Immersion in den Text von sich aus mehr und mehr lesen.
Die Aktivierung der vielfältigen Hirnareale bei Hochbegabten während des Lesens kann man außerdem nicht in einen Topf werfen mit der Beobachtung, dass bei Leseanfängern (!) mit zunehmender Routine weniger Hirnareale beim Lesen aktiv sein müssen, denn in diesem Fall geht es darum, wieviel cerebrale Anstrengung nötig ist, um den Text überhaupt seinem Sinn nach zu verstehen. Die Entlastung durch Automatisierung hier ist zweifellos ein wesentlicher Fortschritt im Lernprozess der Kinder. Dass Hochbegabte jedoch wesentlich mehr Assoziationen zu einem Text beisteuern und dass bei ihnen während des Lesens verwandte Wissensegebiete aktiviert werden, weil durch die höhere Intelligenz die Verarbeitungskapazität schlicht größer ist, ist ein ganz anderes Thema, denn diese höhere Aktivierung wird nicht als belastend empfunden. Es wäre ja völlig absurd, zu sagen, der Weg ginge vom anstrengenden, als unangenehm empfundenen Lesenlernen mit hoher Hirnaktivität über eine entlastende Phase durch Automatisierung zurück zu einer erneut als belastend empfundenen Phase hoher Hirnaktivität beim überaus routinierten, hochintelligenten Leser.
Dass Lesen emotional belohnt werden muss: Zweifellos. Mein favorisiertes Modell hierzu ist das Konzept des „Inneren Halts“ von Paul Moor, der sehr ausgewogen die Rollen von Übung, Willensanstrengung und Empfänglichkeit des Gemüts darstellt. Aber auch in seinem Modell ist ganz klar: Nur eine bestimmte Basis an Routine – und das ist in diesem Fall das Lesenkönnen in Sprechgeschwindigkeit – ermöglicht es überhaupt erst, über das wechselhafte, kurzlebige Ansprechen von Stimmungen hinaus eine tiefere Lesefreude zu empfinden, weil zuvor Unlust und die Unfähigkeit, bei tieferen Gehalten zu verweilen, dem im Wege stehen. Knapp gesagt: Wer sich nur mit Mühe Comics zusammenbuchstabieren kann, wird keinen Genuss an Tolstoi haben.
Was die Silben betrifft:
Sie lehnen sich m.E. recht weit aus dem Fenster mit der Behauptung „Zu behaupten, die Silbe als Spracheinheit habe nichts mit Rechtschreibung zu tun, entbehrt jeder sprachwissenschaftlichen Grundlage und nur weil der Wortstamm bei wenigen, relativ leicht beherrschbaren Rechtschreibproblemen eine Rolle spielt, ist das sicher nicht die bessere „Einheit““.
Kein ernstzunehmender Linguist bedenkt das Kunstkonstrukt der Silben als wesentlichen Bestandteil von Sprache – so, jetzt formulieren ich einmal ebenso apodiktisch wie Sie. Silben haben nur an einem einzigen Punkt wesentlich mit der deutschen Orthographie zu tun, nämlich bei den Trennungsregeln am Zeilende. Der Wortstamm spielt nicht bei wenigen, sondern bei sämtlichen komplexeren Rechtschreibproblemen eine Rolle und zwar die entscheidende. Ihr fortgesetztes Argument „denn mit Leseproblemen hat dieser nur wenig zu tun, diese entstehen eher durch das Problem der schwer verständlichen Kennzeichnung von Lang- und Kurzvokalen“ ergibt im Kontext überhaupt keinen Sinn.
Die orthographische Kennzeichnung der Kurz- und Langvokale ist im Deutschen eigentlich nicht schwerer verständlich als im Ungarischen, Englischen oder Französischen. Auf einen kurzen Vokal im Wortstamm folgen im Deutschen 2 Konsonanten, entweder zwei verschiedene oder das verdoppelte Zeichen, wenn nur ein Konsonant hörbar ist (TANTE, TANNE). Phonotaktisch sind im Deutschen keine anderen Wortstämme gegeben: Wir haben keine Wortstämme, in denen auf einen Langvokal zwei Konsonanten im Stamm folgen. Für flektierte Formen hingegen lässt die deutsche Phonotaktik dies sehr wohl zu (KAHN, KANNE, KANTE – ich KANNTE ihn, das Pferd LAHMT). Die Fälle, in denen die Silbengrenzen diesem Phänomen parallel gehen, nämlich in Wörtern mit Prä- und Suffixen, sind kein „Verdienst“, keine logische Folge einer universalen Silbenstruktur von Sprache, sondern eine Parallele zur Einteilung in Wortbausteine (BE-KANN-TE). Gerade die Trennung der Doppelkonsonanten im Silbenkonzept (TAN-NE) verschleiert hingegen die oben erwähnte, eigentlich sehr einfache Regel, die im Deutschen die Lang- und Kurvokale kenntlich macht.
Die Silbe selbst ist gerade nicht intuitiv das einzig wahre sprachliche Element, sondern sie ist eine überkommene Form, um die Sprachmelodie abzubilden, und spielt insofern für das betonte Lesen von Gedichten eine Rolle. Wenn Sie aber z.B. an Opernarien denken, wird sehr deutlich, dass intuitiv primär die Vokale (weil man sie länger und lauter betonen kann) als Träger des Tons gesehen werden (und gelegentlich die vokalisierbaren Konsonanten), völlig abweichend vom Grundschul-Silbenkonzept. Singt man auf vier Töne das Wort „Silbenschrei-bung“, wird man singen: „Sil-ben-schrei-bung“ und kann den Ton sogar auf dem vokalisierten -ng noch ein wenig halten. Verteilt man das Wort aber auf mehr Töne, wird der Sänger völlig abweichend von der Silbenstruktur singen: Si- (h)i-(h)i-(h)i- l -b -e-e-e-en – schrei-(h)ei – (h)ei – (h)ei – bu -(h)u – (h)u – (h)u – (h)ung“. Mit Rechtschreibung hat das alles rein gar nichts zu tun, es hilft nicht, sie zu lernen, aber verschleiert die wahre Sprachstruktur an vielen Stellen und schadet so. Die wahre Sprachstruktur und somit auch die Linguistik jenseits von der Grundschul-„Linguistik“ kennt das Konzept Silbe gar nicht kennt; Morphologie beschreibt die Struktur von Sprache.
Sie müssen sich für Kritik nicht entschuldigen – aber damit leben, dass auch Sie sich in ihr irren können.
Beste Grüße,
Dr. Miriam Stiehler