Macht duzen dumm? Warum Kinder mehr an Schulen lernen, die auf dem „Sie“ bestehen
Beim Lesen der ZEIT blieb ich bei der Schlagzeile „Grundschulen – Ein Gespräch über das Siezen von Lehrern“ hängen. Mein erster Gedanke war: Gibt es denn wirklich keine drängenderen Fragen an unseren Grundschulen? Dennoch war meine Neugierde geweckt und ich erhielt beim Weiterlesen einen Einblick in eine interessante und aufwendige Studie, in der das Anredeverhalten der Schüler in Beziehung gesetzt wird zu Methoden des Schriftspracherwerbs, Schulkulturen, bildungspolitischen Ansichten der Parteien und zu den unterschiedlichen Bildungserfolgen in den Bundesländern.
Über diese Zusammenhänge wird die Anrede der Schüler offenbar zu einem überraschend zuverlässigen sprachlichen Zeichen für das Rollenverständnis der Lehrkräfte, für die Beziehung der Lehrkräfte zu ihren Schülern oder für das Ausmaß der Leistungsorientierung in der Grundschule zum Beispiel beim Schriftspracherwerb.
Im Frühjahr 2015 verschickte der Autor der Studie, Wolfgang Steinig, einen Fragebogen an die Rektoren und Rektorinnen von 598 Grundschulen in ganz Deutschland, und zwar an jeweils zwei aus jedem der 299 Bundestagswahlkreise. 61 Prozent der Fragebögen kamen ausgefüllt zurück; eine außergewöhnlich hohe Rücklaufquote. Gefragt wurde, wieviel Prozent der Kinder ihre Lehrkräfte in der Grundschule mit „Du“ oder „Sie“ anreden und welche Gründe es dafür an der Schule gibt. In weiteren Fragen erkundigte sich der Autor der Studie nach den verwendeten Schriftarten im Erstunterricht und danach, wie konsequent von Anfang an auf die Rechtschreibung geachtet wird. In einem zweiten Teil der Studie wurden die Webseiten der ausgewählten Grundschulen analysiert, um etwas über Leitbild, Selbstverständnis und spezifische Schulkultur der einzelnen Schulen zu erfahren.
Bei der Webseitenanalyse ergaben sich zwei idealtypische Schulkulturen: eine formelle und eine informelle:
– Die Lehrpersonen in formellen Kulturen (f-Kulturen) erwarten von den Grundschülern einen höflichen und respektvollen Umgangston, in dem ein hierarchisches Gefälle zwischen Lehrer und Schüler zum Ausdruck kommt. Sie geben soziale Regeln vor und fordern deren Einhaltung konsequent ein. Gegen Verstöße gehen sie vor und zeigen wenig Toleranz gegenüber Unterrichtsstörungen und Unpünktlichkeit. Die Schüler siezen ihre Lehrer.
– In einer informellen Schulkultur (i-Kultur) wird die freie Entfaltung der Schüler stärker betont. Im Unterricht herrscht eine eher lockere Atmosphäre. Die Kinder können sich im Klassenzimmer frei bewegen, zugleich herrscht ein hoher Geräuschpegel. Die Lehrer-Schüler-Kommunikation ist frei von Hierarchie und den Kindern werden nur wenige Grenzen gesetzt. Reagieren die Schüler nicht auf Anweisungen oder Aufforderungen, zieht das nur selten Konsequenzen nach sich. Die Kinder müssen sich nicht um eine formelle Sprachebene bemühen und duzen deshalb ihre Lehrer.
Wie wirken sich nun diese beiden unterschiedlichen Schulkulturen auf das Lernen, im Besonderen auf das Erlernen der Schriftsprache aus? Die formellere Sie-Ebene fordert von den Kindern ein elaborierteres, eher an der Schriftsprache orientiertes Sprachverhalten, wie es zum Beispiel an weiterführenden Schulen erwartet wird. Der Satzbau wird komplexer und die Wortwahl differenzierter. Bleiben die Kinder auf der Du-Ebene, sprechen sie einfach so weiter, wie sie es aus der Familie, dem Kindergarten oder dem Umgang mit Freunden gewohnt sind. Das ist für die Kinder weniger anstrengend und viel angenehmer. Fordert man von Kindern allerdings einen sprachlichen Ausdruck, der näher an der Schriftsprache liegt und der sich um sachliche Präzision bemüht, so fördert man gleichzeitig bei ihnen komplexe kognitive Prozesse. Einfacher ausgedrückt: Anspruchsvolles Sprechen löst anspruchsvolles Denken aus. Hinzu kommt, dass Lehrkräfte in formellen Schulkulturen verstärkt auf die Beachtung orthographischer Regeln Wert legen. Oder anders gesagt: Je verbreiteter die Du-Anrede, desto häufiger schreiben Kinder im Unterricht Texte, ohne dabei auf die Rechtschreibung achten zu müssen. In informellen Schulkulturen, wo die Lehrkräfte geduzt werden, besitzt die Rechtschreibung einen deutlich geringeren Stellenwert. So verwundert es nicht, dass sich ein enger statistischer Zusammenhang ergibt zwischen den Duz-Quoten an Grundschulen und Lese- und Rechtschreibleistungen. Je häufiger Lehrkräfte in einem Bundesland geduzt werden, desto schlechter schneiden die Schüler dieses Landes in den bundesweiten Leistungstests ab. Die Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg imponieren durch die höchsten Duz-Raten und die niedrigsten Leistungswerte in den Vergleichsarbeiten, während es sich in Thüringen und Sachsen genau umgekehrt verhält.
Die zusammenfassende Schlussfolgerung des Autors der Studie sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen: Informelle Schulkulturen mindern seiner Meinung nach die Chancen für Kinder aus unteren sozialen Milieus. „Sprachliche Hürden abzubauen und die Standards – nicht nur in der Rechtschreibung – zu senken, macht es Kindern aus bildungsfernen Schichten letztlich deutlich schwerer, sozial aufzusteigen. Die SPD, aber auch die Grünen, sind einem Erleichterungscredo verpflichtet, das Chancengleichheit beeinträchtigt. … Kinder aus unteren sozialen Milieus, die keine Hilfe von ihren Eltern erwarten können und deren Erziehung nicht auf Selbständigkeit ausgerichtet ist, werden durch informelle Schulstrukturen eher verunsichert. … Um Kindern aus bildungsfernen Familien mehr Chancen zu ermöglichen, braucht es eine stärkere Orientierung durch verständliche Instruktionen“ (Die ZEIT Nr. 39, 2017).
Der Autor spannt mit seinen Forschungen eine weiten Bogen von der Pädagogik (Leitbild und Selbstverständnis der Schulen) über die Didaktik (Methoden des Schriftspracherwerbs und schulische Leistungen) bis hin zur Schul- und Bildungspolitik (Parteiprogramme und Bildungspolitik der Parteien in einzelnen Bundesländern). Zur Abwechslung einmal eine bildungswissenschaftliche Untersuchung, die sich nicht nur im Beantworten hochspezifischer Detailfragen ergeht, sondern auch die großen gesellschaftlichen Zusammenhänge in den Blick nimmt und mutig interpretiert.
Weitere Details zu dieser interessanten und aussagekräftigen Studie finden sich bei:
Korrelation und Kausalität – leider zwei Begriffe, die kaum verstanden sind, auch hier nicht.
Wurden die Schulleiter/innen auch danach gefragt, ab welcher Jahrgangsstufe die Kinder ihre Lehrer/innen duzen sollen oder müssen?
Meiner Erfahrung nach erfolgt der Wechsel vom Du zum Sie zwischen dem zweiten Halbjahr der zweiten Klasse und dem Ende des ersten Halbjahres der dritten Klasse. Was kreuzen die Schulleiter/innen auf dem Fragebogen an, wenn nicht differenziert wird?
Um einen Zusammenhang zwischen der Lehrer-Anrede und dem Leselernprozess herstellen zu können, müsste man nicht nur allgemein nach dem Sie oder dem Du in der jeweiligen Grundschule fragen, sondern danach, ob die Kinder bereits ab der ersten Schulwoche dazu angehalten werden, die Lehrkräfte zu siezen.