5 Gründe, warum das Datum Kindergartenkinder überfordert
In Kindergärten wird gerne als Teil des Morgenkreises das aktuelle Datum genannt. Wie sinnvoll ist das?
Das tägliche Datum erscheint vielen Erzieherinnen im Kindergarten als etwas einfaches, alltägliches, was man sich wie andere Routinen leicht aneignen kann. Schließlich könnten die Kinder doch morgens zu Hause beim Frühstück einfach die Eltern fragen, welches Datum heute ist. Das reine Auswendigmerken von inhaltsleeren Worten ohne tieferes Verständnis ist jedoch kein sinnvolles Lernziel. Das Datum zu verstehen und dann auch richtig zu benennen, setzt erstaunlich viele kognitive Strukturen voraus, über die Kinder im Kindergartenalter noch nicht verfügen. Die verschiedenen Begriffe und Zusammenhänge, die gemeinsam erst das Verständnis des Kalenders ermöglichen, müssten der Reihe nach sorgfältig aufgebaut werden. Das ist nicht „nebenbei“ durch Abfrage des Datums möglich. Zu Recht wird z.B. in Bayern das Thema Kalender und Datum erst in der zweiten Klasse behandelt.
Was setzt das richtige Benennen des Datums inhaltlich voraus?
- Dezentrierung
- verschachtelte Klassen verstehen (Tag, Woche, Monat, Jahreszeit, Jahr)
- Wochentage, Monate
- Kardinal- und Ordinalzahlen unterscheiden
- Mengen und Zahlen bis 31 (bzw. 2017) beherrschen
Das sind ganz schön viele Voraussetzungen! Lassen Sie mich dazu ein paar Anmerkungen im Detail machen:
- Dezentrierung ist die Fähigkeit, zwei oder mehr Dimensionen bzw. Aspekte einer Sache gleichzeitig, aber auch abwechselnd im Zusammenhang miteinander zu betrachten. Das bekannteste Beispiel für Dezentrierung ist Piagets Umschüttversuch: Aus einem hohen, schmalen Glas wird eine Flüssigkeit in ein breites, kurzes Glas umgefüllt. Solange Kinder nur eine Dimension, meist die Füllhöhe, beachten, denken sie, in dem Glas mit dem größeren Durchmesser befinde sich nach dem Umfüllen weniger Flüssigkeit als zuvor im hohen Glas. Schließlich ist die Füllhöhe nun deutlich niedriger. Sie bestehen häufig selbst dann auf dieser Schlussfolgerung, wenn sie das Umschütten beobachten konnten und daher eigentlich gesehen haben, dass nichts verschüttet wurde und die Flüssigkeit daher gar nicht weniger geworden sein kann. Dieses sogenannte egozentrische Denken des Kindes muss in Bezug auf viele Lernbereiche überwunden werden, damit ein Kind schulreif ist. Ein Beispiel ist der Mengenbegriff: Kleine Kinder denken, vier Gummibärchen auf dem Tisch würden „mehr“, wenn man sie weiter auseinander legt, und „weniger“, wenn man sie näher zusammenschiebt. Im Vorschulalter zeigen sich diesbezüglich die ersten Zweifel, und mit etwas Übung verstehen die Kinder dann, dass der Abstand zwar größer wird, die Menge aber die gleiche bleibt.
- Verschachtelte Klassen waren ein Lieblingsthema von Piaget. Es ist für Kindergartenkinder schon anspruchsvoll, zu begreifen, dass konkrete unterscheidbare Dinge und Personen gleichzeitig auch noch zu einem Oberbegriff gehören. Sie können verstehen, dass Sätze wie „Sind hier mehr Jungen oder mehr Menschen?“ unlogisch sind, weil die Gruppe „Jungen“ in der Gruppe „Menschen“ enthalten ist
. Manche Vorschulkinder sagen von sich aus, es seien „mehr Menschen“ und meinen damit eigentlich diese Subsumierung. Große Kindergartenkinder sollten verstehen, dass Jungen und Mädchen beides Kinder sind, Männer und Frauen Erwachsene, und sowohl Kinder als auch Erwachsene Menschen. Aber bei solch abstrakten Begriffen wie Tag, Woche, Monat und Jahr ist es deutlich anstrengender, dieses Verständnis zu erzeugen. - Tage, Monate und Jahreszeiten müssen zusätzlich zu diesem Verständnis korrekt benannt und in der richtigen Reihenfolge gewusst werden, damit man wirklich versteht, was das heutige Datum bedeutet.
Das ist umso schwieriger für Kinder, die noch nicht lesen können, denn das Lesen unterstützt die Einordnung abstrakter Begriffe. Die Jahreszeiten lernen viele Kindergartenkinder, aber welche Monate zu welcher Jahreszeit gehören, das können selbst Erstklässler noch nicht zuverlässig angeben. Zumal laut Kalender die Jahreszeiten ja eigentlich nicht zum Monatsersten wechseln. Wenn dann noch Begriffe wie „gestern“, „heute“ und „morgen“ und der Vergleich mit dem vergangenen und zukünftigen Datum verlangt wird, steigen Kinder mental aus. Kaum ein Kindergartenkind kann verstehen, dass heute morgen gestern sein wird, obwohl heute auch morgen noch Dienstag sein wird, aber eben gestern, weil morgen ja Mittwoch ist. Wortschöpfungen wie „übergestern“, gerne als Ausdruck für die jüngere Vergangenheit überhaupt verwendet, zeigen, wie sich Kindergartenkinder mit diesem Verständnis abmühen. Zusätzlich müssten Kinder verstehen, welche Einheiten immer wiederkehren (Woche, Jahreszeiten) und welche nach einem Durchlauf beendet sind (Monat, dieses Jahr). - Unterscheidung von Kardinal- und Ordinalzahlen: Wenn heute der 24. März ist, ist in 8 Tagen April. Und zwar der erste. Alles klar? Das Jahr hat 12 Monate, der 12. Monat ist aber nur einer. Dafür besteht er aus vier Wochen. – Kardinal- und Ordinalzahlen sauber unterscheiden zu lehren, erfordert gute Kenntnisse in Mathematikdidaktik. Schließlich ist es nicht selbstverständlich, dass die Menge vom 3. bis zum 6. Gummibärchen in einer Reihe aus 4 Gummibärchen besteht; aber
nicht die Menge vom 4. bis zum 6. Gummibärchen, das sind nur drei. Nicht einmal im regulären Vorschulprogramm der meisten Kindergärten wird dieses komplexe Thema mit der nötigen Sorgfalt bearbeitet. Es ganz nebenbei durch das tägliche Abfragen des Datums erzielen zu wollen, ist hanebüchen. - Mengen und Zahlen zu beherrschen ist definitiv ein Lerngebiet für Vorschulkinder. Aber man sollte sich dabei eher darauf konzentrieren, die Zusammensetzung der Mengen bis 5 oder 6 als simultanen und dezentrierten Mengenbegriff zu sichern. Dass Kinder mit Übung bis 31 zählen können, sagt leider kaum etwas über ihr Mengenverständnis aus. Die Zahlenreihe ist für sie wie ein Liedtext oder Gedicht, die man sich merkt und bei Bedarf aufsagen kann. Man darf daraus keinesfalls ein mathematisches Verständnis ableiten. Zahlen größer als 6 setzen ein sicheres Verständnis dafür voraus, dass
Mengen aus Teilmengen zusammengesetzt werden können.Alle zweistelligen Zahlen erfordern dazu noch ein Verständnis des Dezimalsystems. Ich habe noch keinen Kindergarten erlebt, der diesen Sachverhalt sorgfältig gelehrt hätte. Das muss auch nicht sein. Viel wichtiger wäre ein solider Mengenbegriff bis 6, die Unterscheidung von Ziffern und Zahlen als Basis für das spätere Verständnis des Dezimalsystems, und die korrekte, nicht-zählende Verwendung der Finger. Damit, und nicht mit dem Datum, wäre Kindern gedient.
Wenn das alles so ist, warum spielt denn das Benennen des Datums in Kindergärten überhaupt eine Rolle? Warum ist es ein beliebter Bestandteil des Morgenkreises? Warum wird in Kindergärten so viel Geld ausgegeben für entsprechende Materialien, Teppiche und Bastelanleitungen?
Eine Erzieherin erklärte mir, etwas ungeduldig ob meiner didaktischen Einwände, auf Nachfrage: „Naja, in der Praxis sagt eine von uns dem Kind, das an der Reihe ist, zu Beginn des Morgenkreises das heutige Datum ins Ohr. Wir wollen wenigstens, dass es sich das für ein paar Minuten merkt und es wiedergeben kann, wenn es später danach gefragt wird.“ Es geht also gar nicht ums Lernen. Dann sind wir ja beruhigt.
Sehr geehrte Frau Stiehler,
ich habe es immer so verstanden, dass der Kindergarten dies als Differenzierung nach oben benutzt, ohne dass es irgendjemandem auffällt. So können auch die fitten Kinder abgeholt werden, am Morgenkreis teilzunehmen, der für diese sonst eher wenig Interessantes zu bieten hat. In den meisten Kindergärten dürften sich einzelne Kinder finden lassen, die mit gerade 4 Jahren sinnentnehmend lesen können oder auch welche, die schon vor ihrem 3. Geburtstag mit Hilfe einer analogen Uhr abschätzen können, was es bedeutet, wenn in einer halben Stunde etwas passiert. Wie wollen sie diese Kinder sonst unauffällig fördern?
Mit freundlichen Grüßen
K.
Liebe K.,
ist es denn nicht ein Grundfehler der Förderung im Kindergarten, wenn der Morgenkreis für einen nennenswerten Teil der Kinder nichts Interessantes zu bieten hat? Und warum muss deren Förderung „unauffällig“ geschehen – man bemüht sich doch auch nicht, die Logopädie, die heilpädagogischen Zusatzstunden oder die Sprachförderung der schwächeren Kinder möglichst „unauffällig“ zu gestalten?
Und, was das ganz konkrete Beispiel „Datum“ angeht: Ich bin mir sehr sicher, dass die von Ihnen beobachteten „fitten Kinder“ sich das Datum lediglich merken, ohne es wirklich zu verstehen. Ich habe zumindest selbst in Kindergärten bereits Kinder mit einem sehr hohen IQ erlebt, die dennoch weder ein Interesse daran hatten, das eben für sie sinnfreie Datum nachzuplappern, noch es in allen seinen Bestandteilen (Tag, Monat, Jahr) wirklich verstanden hatten. Wer nicht lesen kann, kann auch die Monate und den Kalender nicht wirklich begreifen. Und Kinder, die alle Monate sinnentnehmend lesen können und dann auch noch deren Reihenfolge beherrschen und sie in die Jahreszeigen anordnen können – die habe ich noch nie in einem Kindergarten gesehen. Es mag eine Handvoll davon im ganzen Land geben. Aber das rechtfertigt meines Erachtens nicht, eine so wenig durchdachte „Förderung“ in den Tagesablauf einzubauen. Finden Sie nicht, dass Förderung durchdachter sein sollte?
Herzliche Grüße,
Miriam Stiehler