Wege und Irrwege in der Rechenförderung
Wege und Irrwege: Der Titel klingt arrogant, ich weiß. Das klingt so, als würde sich einer hinstellen und sagen: Ich hab die Weisheit mit Löffeln gefressen, ich weiß, wo’s lang geht, und die anderen sind alle auf dem Holzweg.
So arrogant bin ich nicht. Es geht hier aber auch nicht um meine persönlichen Weisheiten und Entdeckungen. Worum es geht, ist vielmehr: In den letzten 10, 20 Jahren hat die mathematik-fachdidaktische Forschung einiges über Rechenschwächen herausgefunden. Immer noch viel zu wenig, viele Fragen sind noch offen, in vielen Punkten sind die Experten uneins.
Aber es gibt doch auch eine ganze Reihe von Einsichten, über die mittlerweile in Fachkreisen weitgehend Konsens besteht. Auf dieser Grundlage, gestützt also auf einige Eckpfeiler der aktuellen mathematik-fachdidaktischen Forschung, lassen sich chancenreiche Wege für die Förderung rechenschwacher Kinder aufzeigen. Ich betone: Wege; dass es nicht den einen Königsweg zur Überwindung aller Schwierigkeiten im mathematischen Lernen gibt, ist gerade ein solcher Eckpfeiler dieser Forschung.
Auf der anderen Seite lässt sich auf der selben Grundlage aber auch zeigen, dass manches, was nach wie vor nicht selten auf diesem Gebiet unternommen wird, einen Irrweg darstellt. Und weil die Einsicht, sich auf dem falschen Weg zu befinden, Voraussetzung dafür ist, den richtigen zu suchen, möchte ich auch dort beginnen: bei den Irrwegen in der Förderung rechenschwacher Kinder.
Irrweg Nummer 1: Rechenschwache Kinder dadurch fördern zu wollen, dass man sich nicht mit dem Rechnen beschäftigt
Was meine ich damit? Rechnen, Mathematiktreiben sind komplexe geistige Leistungen. Beim Erlernen dieser Leistungen spielen eine Fülle von so genannten „basalen“ Teil-Leistungen eine Rolle: die taktil-kinästhetische Wahrnehmung, die visuelle Wahrnehmung, die Wahrnehmung von räumlichen Beziehungen, und andere Teilleistungen mehr. Welches genau deren Rolle beim mathematischen Lernen ist: Das ist eine jener Fragen, die auch innerhalb der Mathematik-Fachdidaktik noch nicht befriedigend erforscht ist.
Die Frage, wie Rechenschwächen entstehen, ist das eine. Etwas anderes ist aber die Frage, wie Rechenschwächen überwunden oder zumindest gelindert werden können.
In dieser Frage besteht in Fachkreisen weitgehend Konsens dahingehend, dass – um es mit Hans Dieter Gerster (2002) auf den Punkt zu bringen – rechnen nur dadurch gelernt wird, dass man mit Kindern rechnet. Das ist kein Einwand gegen ein Training der genannten basalen Teilleistungen, sofern in diesem Bereich Defizite festgestellt wurden; solche Trainings haben, wie etwa Wember (1996) betont, einen „Wert sui generis“. Aber man sollte daran nicht die Hoffnung knüpfen, dass dadurch rechnerische und weiter gehende mathematische Schwierigkeiten zu beheben oder auch nur zu reduzieren sind.
Dass solche Hoffnungen nicht begründet sind, dafür gibt es einerseits empirische Hinweise. So berichtet Breitenbach (1992, S. 176) über eine Vergleichsuntersuchung in Diagnose- und Förderklassen: Schüler einer Versuchsgruppe wurden gezielt im Bereich basaler Teilleistungen gefördert. Bei der abschließenden Untersuchung zeigte sich, dass die Schüler in diesen geförderten Bereichen Fortschritte erzielt hatten, sie schnitten jetzt also z.B. bei Tests ihrer visuellen Wahrnehmungsleistungen besser ab als zu Beginn der Förderung. Ein Fortschritt im Bereich ihrer rechnerischen Leistungen war aber nicht erkennbar, im Gegenteil: in diesem Bereich vergrößerte sich ihr Rückstand gegenüber der Kontrollgruppe, die nicht basal gefördert wurde, noch weiter.
So hält denn auch der Neuropsychologe Michael von Aster (2001) fest: „Belege für die Wirksamkeit solcher Therapiemaßnahmen (die Rede ist von psychomotorischen, sensorisch-integrativen, oder wahrnehmungsdifferenzierenden Übungsbehandlungen) in Hinblick auf schulische Lernstörungen konnten bisher nicht erbracht werden. Diese Therapien schaden zwar den Kindern in der Regel auch nicht, aber ihre Wirkungen sind, wenn überhaupt, auf die unmittelbar geübten, meist nicht-schulischen Fertigkeitsbereiche begrenzt.“ (von Aster, 2001, S 7).
Neben solchen empirischen Hinweisen lässt sich die Wirkungslosigkeit von mathematikfernen Teilleistungstrainings aber, und das scheint mir wesentlicher zu sein, auch inhaltlich-argumentativ begründen. Dazu ist es aber nötig, ein wenig ins Detail dessen zu gehen darüber, was Rechenschwächen ausmacht. Rechenschwächen bestehen auf kognitiver Ebene darin, dass Kinder einseitige, unzureichende Konzepte über Zahlen, Stellenwerte, Rechenoperationen verfolgen. Ich muss mich hier auf einen dieser Bereiche beschränken, der aber für viele Rechenstörungen zentral ist: das zählende Rechnen. Rechenschwache Kinder fallen in ihrer Mehrheit dadurch auf, dass sie auch noch in der zweiten, dritten Schulstufe und oft weit darüber hinaus auf Zählstrategien zur Lösung von Plus- und Minusaufgaben zurückgreifen.
Dazu gleich das Eine: Es wäre ein weiterer Irrweg zu sagen: Sollen sie eben zählen! Zählendes Rechnen, auch das ist Konsens in der Unterrichtsforschung, stellt eine Sackgasse in der mathematischen Entwicklung dar. „Zählkinder“ geraten zwangsläufig von Schuljahr zu Schuljahr in größere Schwierigkeiten. Und es ist ein Zeichen von didaktischer Ahnungslosigkeit, wenn man diese Kinder sich selbst überlässt und keine Anstrengungen unternimmt, um ihnen Alternativen zum zählenden Rechnen zu eröffnen.
Aber warum bleiben manche Kinder an zählenden Verfahren hängen, während andere im Laufe des ersten, spätestens zweiten Schuljahres nicht mehr darauf angewiesen sind? Nähert man sich diesen Kindern im Sinne einer „konzeptuellen Analyse“, wie das Gerster/Schultz (1998) in ihrem umfassenden Forschungsbericht getan haben, dann erkennt man: Zählkinder rechnen zählend aufgrund dessen, wie sie über Zahlen denken. Man kann das recht gut nachvollziehen an der Art und Weise, wie sie bestimmte Aufgaben lösen: 8 – 5 etwa kann ein Kind auf unterschiedliche Weise bearbeiten. Es kann 8 Finger hochhalten, erkennen, dass eine Hand 5 Finger hat, und diese eine Hand zur Gänze wegnehmen. Oder es hält 8 Finger hoch – und zählt vom 8. Finger 5 Finger einzeln herunter.
Im ersten Fall behandelt es 8 als Zusammensetzung aus 5 und 3; als ein Ganzes, das aus Teilen zusammengesetzt ist, die man wegnehmen oder auch wieder zusammengeben kann.
Im zweiten Fall behandelt es 8 als „Station“, als „Endpunkt“ eines Zählvorgangs, der bei 1 begonnen hat. Wenn ich so über Zahlen nachdenke, dann werde ich bei 8 – 5 nicht einfach eine Hand weggeben; ich denke die 8 ja nicht als Gesamtheit, die 5 nicht als deren Teil, den ich wegnehmen kann. Sondern ich bin beim Nachdenken über 8 – 5 zählend beim 8. Finger angelangt, der als eine bestimmte Station in der Zahlenreihe für sich alleine steht; er hat mit 5 (der 5. Station) nichts anderes zu tun als dass er „weiter hinten“ kommt. Jetzt soll ich aber, von 8 ausgehend, auch noch etwas mit der Zahl 5 machen. Auch diese Zahl erreiche ich nur durch Zählen. Bei „minus“ oder „weg“ muss ich freilich „in die andere Richtung zählen“ – das lernen die Kinder in der Regel. Also zählen sie – vom 8. Finger 5 Finger runter.
Was kann nun unternommen werden, um diesen Kindern zu helfen? Nun: Wenn ich weiß, dass das Denken des Kindes über Zahlen und Operationen einem nicht zählenden Rechnen im Wege steht, dann muss ich eben an diesem Denken arbeiten. Es muss mir gelingen, dem Kind zu vermitteln: Zahlen sind Zusammensetzungen aus anderen Zahlen. Wie das gehen kann, dazu später noch etwas mehr. Aber eines sollte klar geworden sein: Hier hilft kein Training von Basisteilleistungen getrennt davon, was das Kind über acht, fünf, drei und Wegnehmen denkt. Das Kind scheitert ja in diesem konkreten Fall daran, dass es sich die Zahlen in einer sehr einseitigen, aber nachvollziehbaren, in sich stringenten Weise zurechtgelegt hat – und nicht etwa daran, dass es nicht links von rechts unterscheiden könnte oder in seinem Körperschema unsicher ist, usw.
So weit also ein paar Argumente dafür, warum nicht nur ich, sondern die überwiegende Mehrheit der Fachautorinnen und -autoren heutiger Zeit basale Teilleistungstrainings als einen Irrweg in der Förderung rechenschwacher Kinder betrachten. Dazu nur noch eine Bemerkung: Vieles von dem, was ich sage, muss in diesem Rahmen thesenhaft bleiben; an anderer Stelle hat aber bereits vielfach eine umfassende Diskussion hierzu stattgefunden.
Autor und Rechteinhaber des obigen Textes: Michael Gaidoschik
Dieser Artikel ist der erste Teil einer Reihe. Sie finden alle Artikel daraus wahlweise unter den Schlagworten „Wege“ und „Irrwege“ oder über diese Links:
- Teil 2: Warum mehr üben rechenschwachen Kindern nicht hilft
- Teil 3: Rechenmaterial – aufs Denken kommt es an
- Teil 4: Man sieht nur, was man weiß
- Teil 5: Keine sinnvolle Förderung ohne Fehleranalyse!
- Teil 6: Rechenschwäche: Neuaufbau tut Not
- Teil 7: Lernmaterial: Leiter, nicht Krücke
Mit großer Freude beginnen wir mit diesem Artikel eine Kooperation mit unserem Kollegen Michael Gaidoschik aus Österreich. Prof. Dr. Michael Gaidoschik hat sich über viele Jahre hinweg für seine genaue Fehleranalyse und seine effektiven, konkreten Ideen für besseren Rechenunterricht einen exzellenten Ruf in der Mathematik-Förderdiagnostik erarbeitet. Inzwischen ist er vom selbst betriebenen Institut für Rechenförderung zu einer Professur gelangt. Wir hoffen, noch viel vom ihm zu hören, und bedanken uns herzlich für das schnelle und freundliche Einverständnis zur Veröffentlichung!
Dass ein zählendes Rechnen ein Irrweg in der Förderung rechenschwacher Kinder ist, bestätigt auch der Mathematikdidaktiker Jens Holger Lorenz in einem aktuellen Fachartikel zum „Fingerrechnen aus didaktischer Sicht“. Obwohl die Finger durchaus ein wichtiges Hilfsmittel im Umgang mit Zahlen in einer bestimmten Entwicklungsphase der arithmetischen Tätigkeit darstellten, so stellten sie eben auch, so Lorenz, ein Hindernis für die Weiterentwicklung und für die Ausbildung starker Rechenstrategien dar. Das Fingerrechnen gerade im Förderbereich könne nur eine Übergangsphase sein und die Ablösung vom zählenden Rechnen und der Fingermanipulation sei nicht genügend zu betonen.
Von einem verfestigten zählenden Rechnen werde in der Didaktik gesprochen, wenn Kinder am Ende der 1. Klasse und darüber hinaus noch häufig zählende Strategien bei der Lösung von Additions- und Subtraktionsaufgaben einsetzten. Das verfestigte zählende Rechnen könne schon fast als charakterisierendes Symptom rechenschwacher Kinder angesehen werden, das oft bis ins hohe Schulalter bestehen bleibe.
Ein Kind das zählend rechne, behandle, so Lorenz weiter, Zahlen im Zuge der Zählhandlung nicht flexibel als Zusammensetzungen aus anderen Zahlen (Teil-Ganzes-Beziehung), sondern die verschiedenen Zahlen werden beim zählenden Rechnen unterschiedslos als zusammengesetzt aus lauter einzelnen Einsen betrachtet. Die Rechenzahlen werden gewissermaßen atomisiert, was die Kinder wieder auf das zählende Rechnen festlege.
Für eine Ablösung vom zählenden Rechnen oder Fingerrechnen genüge es nicht, den Kindern vermehrt Veranschaulichungsmaterial zur Verfügung zu stellen, da sie dazu neigten, die neuen Materialien wie die Finger auch zählend zu verwenden. Im Vordergrund müsse vielmehr das operative Durcharbeiten stehen, die Reflexion über die geplanten und durchgeführten Handlungsschritte am Material und die dabei eintretenden numerischen Veränderungen.
Quelle: Lorenz, J.H. (2015): Fingerrechnen: Aspekte aus didaktischer Sicht. In: Lernen und Lernstörungen 4, Heft 3, 195-207