Mein altes Mathebuch… ist immer noch besser (2/2)
Wenn die Lehrkraft im alten Buch den Schülern einen Arbeitsauftrag geben wollte, konnte sie einfach die Übungen nacheinander durcharbeiten und bei Zeitnot oder starken Schülern die blau markierten Aufgaben weglassen, um schneller voranzukommen. Sie konnte sich darauf verlassen, dass die Aufgaben eine sinnvolle Reihenfolge hatten und aufeinander aufbauten. Die Schwierigkeit stieg systematisch an.
Mehr Aufwand auch für Lehrer – bei weniger Nutzen
Im neuen Buch muss man als Lehrkraft erst einmal suchen, welche Aufgaben überhaupt zum Thema „Klammern auflösen“ passen. Dabei man nicht unbedingt eine ganze Nummer, sondern muss Hausaufgaben geben wie: „Nr. 7 b, d, f, g, i (aber nicht a, c, e, h, k)“. Die Aufgaben als solche sind im Einzelnen durchaus interessant. Die ein oder andere von ihnen könnte sinnvoll am Ende des Themas gemeinsam erarbeitet werden. Aber die meisten von ihnen gehören schlicht nicht zum Thema „Klammern auflösen“. Sie haben hier nichts verloren. Zudem verhindert die chaotische Darbietung ein klares und deutliches Verständnis der zugrunde liegenden Operation – dabei wäre das eigentlich das Wesentliche. Hier wird die Kür vor der Pflicht absolviert, und das ist nie eine gute Idee.
„Handlungsorientiert“ bedeutet nicht „Sachaufgabe“
Vor Jahrzehnten wiesen große Didaktiker wie Hans Aebli auf die fehlende „Handlungsorientierung“ des Mathematikunterrichts hin. Er bezog sich als Schüler Jean Piagets mit dem Wort „Handlung“ auf den Fachbegriff „Operation“. „Operation“ bezeichnet eine Handlung im Hinblick auf ihre geistige Struktur. Aebli forderte zu Recht, dass man gerade in der Grundschulmathematik die geistigen Operationen, die mathematisch ausgedrückt werden können, klar und eindeutig darstellen sollte. Er hat selbst gezeigt, dass man diese Operationen z.B. bei der Flächenberechnung manchmal sehr gut von praktischen Fragestellungen aus erschließen kann. Das wird bis heute in den Grundschulen vernachlässigt, weil verwendete Praxiselemente nicht dazu dienen, die unsichtbare Operation verständlich zu machen, sondern primär „Schnickschnack“ darstellen.
Aber in den weiterführenden Schulen sind mathematische Operationen per se Thema, hier muss nach 4-6 Jahren Primarschule genug Rüstzeug vorhanden sein, um in Mathematik über Mathematik zu sprechen. Um mit mathematischen Mitteln mathematische Zusammenhänge auszudrücken. Für guten Unterricht ist nicht entscheidend, dass irgendwelche Menschen oder Dinge in den Aufgaben vorkommen. Entscheidend ist, wie man die Operation, die es zu lernen gilt, für die Schüler am deutlichsten und einfachsten erfassbar macht.
„Handlungsorientierung“ wird falsch verstanden, wenn man glaubt, jede Aufgabe müsse mit einer Alltagshandlung in Verbindung gebracht werden. „Handlungsorientierung“ bedeutet die „Orientierung an der Operation“. An weiterführenden Schulen sind solche Operationen selbst der Lerngegenstand, denn das ist nun einmal der Inhalt des Fachs Mathematik.
Rechengesetze in alten und neuen Büchern
Ein Beispiel für solche rein mathematischen Zusammenhänge sind das Kommutativ-, Assoziativ- und Distributivgesetz. Dieser Gesetzmäßigkeiten lassen sich viel verständlicher erklären, wenn man dabei im rein Mathematischen bleibt, anstatt mit Gewalt einen Sachzusammenhang herzustellen. Beurteilen Sie selbst, welche Erarbeitung für Sie erhellender ist:
Im alten Buch wird das Thema eröffnet, indem die Schüler 5 • 3 sowie 3 • 5 berechnen und die Ergebnisse vergleichen. Hier wird übrigens sehr schön deutlich, dass Anweisungen wie „berechne“ und „vergleiche“ die Art von geistigen Werkzeugen repräsentieren, die Aebli als wesentliche Bildungselemente betrachtet hat.
In drei rein mathematischen Aufgaben können die Schüler hier feststellen, dass auch bei mehrteiligen Produkten die Reihenfolge nichts am Ergebnis ändert. Aufgabe 2 b) dürfte sie anregen, es mit einer veränderten Reihenfolge zu versuchen, da 0,25 • 4 = 1 sich regelrecht anbietet.
Einfach, schlicht und in nur vier Zeilen ist so das Kommutativgesetz erarbeitet. Es wird anschließend simpel und übersichtlich in einem Kästchen dargestellt. Der Schüler hat hier sofort sein Erfolgserlebnis und kann den ersten Teil mental abhaken im Sinne von „Okay, das habe ich schonmal verstanden“.
Er lernt gleich als nächstes das Assoziativgesetz kennen, das getrennt behandelt wird. Der Lehrkraft wird die Förderdiagnostik erleichtert, da sie durch die getrennte Behandlung der Themen genau merkt, welches der drei Gesetze ein Schüler noch nicht versteht.
Im neuen Buch hingegen wird das Thema mehrfach erschwert. Kommutativ-, Assoziativ- und Distributivgesetz werden nicht nacheinander, sondern gleichzeitig behandelt. Sie sind zusätzlich verschachtelt im Thema „Gleichwertige Terme“ und eingekleidet in eine dreifache Sachaufgabe:
- kommt diese als praktische Alltagsfrage daher (Schulgarten)
- soll sie als geometrische Fragestellung aufgefasst und verstanden werden
- enthält sie die vier verschiedenen Aussagen von vier fiktiven Personen zur richtigen algebraischen Lösung dieser geometrischen Aufgabe.
Die Schüler müssen als Einstieg (!) in das neue Thema
- einen längeren Text verstehen (eine Hürde für schwache Leser)
- aus den Schichten der Sachaufgabe die eigentliche Fragestellung herausschälen
- den Bezug zu den drei (!) verschiedenen Illustrationen herstellen
- und anschließend noch verstehen, was das eigentlich mit dem Kommutativ-, Assoziativ- und Distributivgesetz zu tun hat.
Die Gefahr ist groß, dass Schüler schon früh die ersten Misserfolgserlebnisse haben. Sie ist viel höher als in der schlichten, rein mathematischen Darstellung des 40 Jahre älteren Buches. Die gut gemeinte Absicht, durch „praktische“ Beispiele einen leichteren Zugang zum Thema zu schaffen, bewirkt letztlich das Gegenteil.
Die ausgewählte Seite ist kein bedauerlicher Einzelfall, sondern typisch für das neue Paradigma „Kompetenzorientierung“. Die verwirrende Verschachtelung von Themen zieht sich durch das gesamte Buch, ja durch die gesamte Werkreihe des „Lambacher Schweizer“. Und auch wenn uns keine systematische Analyse sämtlicher deutscher Schulbücher vorliegt, scheint dies nicht die Ausnahme zu sein, sondern eher der Regelfall.
Auch die Technik des Ausklammerns wird in der „modernen“ Variante über graphische Umwege erklärt, während die frühere Herangehensweise ohne Umschweife zum Punkt kommt. Das sehen Sie in der folgenden Galerie.
Ergebnis: Abiturienten, die weniger können und trotzdem erschöpft sind
Es verwundert nicht, dass ausgerechnet dieser vermeintlich bessere Ansatz Abiturienten hervorbringt, die bei Studienbeginn wesentlich schlechter rechnen können als frühere Jahrgänge. Allenthalben müssen Universitäten Algebra und Geometrie in Vorkursen nachunterrichten, weil die Abiturienten nicht in der Lage sind, fundiertes mathematisches Wissen abzurufen und auf ihr gewähltes Studienfach anzuwenden. Das ist, ironischerweise, eine Folge der viel zu frühen und viel zu chaotischen Konzentration auf Anwendungsaufgaben im Schulunterricht.
Es erklärt auch, dass die Gymnasiasten trotz Anwendungsbezug und graphischen „Veranschaulichungen“ den Mathematikunterricht oftmals als frustrierend und anstrengend erleben. Ihnen fehlt die entlastende Erfahrung, ein Thema aus dem Effeff zu beherrschen. Die Notwendigkeit, sich andauernd auf neue Fragen einzustellen, anstatt erst einmal etwas in Ruhe beherrschen zu lernen, führt gerade nicht zu Befriedigung und Meisterschaft. So entstehen Abiturienten, die weniger können als frühere Jahrgänge, sich aber psychisch mindestens genauso gestresst fühlen. Sie sind nicht einfach verweichlichte Jammergestalten, sondern sie leiden real, aber leider unnötig und umsonst.
3) Keine Meister, denn hier kann man nicht üben
Dass meisterliche Leistungen in Mathematik trotz der rein zahlenmäßig immer besseren Abiturnoten eine Seltenheit geworden sind, liegt nicht nur an der unnötig komplizierten Erarbeitung neuer Themen. Eine weitere wesentliche Ursache für erlebte Frustration und mangelndes Können ist fehlende Übung im Sinne von Automatisierung.
Übertragungsleistungen wie Sachaufgaben gehören ans Ende, nicht in die Mitte oder gar an den Anfang eines Lernprozesses, und das aus gutem Grund.
Niemand käme auf die Idee, in einer Fahrschule die Teilnehmer innerhalb einer Unterrichtsstunde nacheinander eine Isetta, einen Multivan mit Automatikgetriebe und einen Maserati mit Schaltwippen fahren zu lassen. Auch dann nicht, wenn der Fahrschüler schon einige Theoriestunden absolviert hat und grundsätzlich vesteht, wie ein Auto funktioniert. Warum nicht? Schließlich besitzen doch alle drei Autos ein Lenkrad, ein Gaspedal und eine Bremse? Ganz einfach: Der Fahrschüler muss Lenkrad, Gas und Bremse ersteinmal sicher im Straßenverkehr beherrschen lernen, ohne dass nebensächliche Merkmale sich dauernd ändern.
Lenkrad, Gaspedal und Bremse der Mathematik sind die Rechenverfahren, und die verschiedenen Straßenarten und Situationen im Straßenverkehr sind die unterschiedlichen rein mathematischen Aufgabenvarianten, die man lösen können muss. Der Fahranfänger erhält erst dann seinen Führerschein, wenn er dies offensichtlich automatisiert, also mit geringster Konzentration auf die Technik und bei voller Aufmerksamkeit für den Straßenverkehr bewältigen kann. Ebenso muss der Schüler Techniken wie Klammern auflösen, ergänzen etc. erst einmal völlig automatisiert beherrschen, ehe die geistigen Kapazitäten für noch mehr Neues frei werden. Auch ein interessierter Fahranfänger mag den Maserati bewundern oder sich in der Isetta amüsieren. Aber er wird es keineswegs als Hilfe empfinden, das Fahrzeug dauernd zu wechseln, ehe er den Golf sicher und routiniert fahren kann. Genauso wenig hilft es einem Schüler, wenn keine zwei Aufgaben nach dem gleichen Schema zu lösen sind. Genau das ist aber der Fall in neueren Mathematikbüchern.
Sehen Sie selbst, wie z.B. das Thema „Ausmultiplizieren“ 1980 und 2020 geübt werden werden soll:
Die alten Bücher bieten eine riesige Menge an Übungen, so dass die nötige Anzahl an Wiederholungen gewährleistet ist. Die Übungen sind nach aufsteigender Schwierigkeit geordnet, was der Lehrkraft die Auswahl erleichtert und Schülern eine motivierende Progression ermöglicht.
So sieht es hingegen 2020 aus – bunt und vielseitig. Der Anteil gleichartiger Rechnungen bei den Übungen ist aber sehr gering, so dass sich Routine kaum erreichen lässt. Das macht es schwer, Sicherheit zu gewinnen.
In der Reihenfolge dieser Aufgaben ist keinerlei Gesetzmäßigkeit erkennbar. Weder steigt ihre Schwierigkeit in nachvollziehbarem Maße, noch sind sie gruppenweise bestimmten Themen zugeordnet. Es herrscht Vielfalt – aber sie ist primär verwirrend.
Üben heißt: etwas Einfaches und Gleichförmiges sehr oft tun
Wie oben im Beispiel mit den Autos beschrieben, setzt Automatisierung zunächst gleichbleibende Umstände voraus. Eine Handlung darf nicht allzu stark variiert werden, wenn sie eingeschliffen werden soll. Nur kleine, überschaubare Variationen haben in der Phase der Übung ihre Berechtigung. Es geht beim Üben nämlich darum, einen bestimmten, überschaubaren Vorgang immer schneller und zu 99% fehlerlos durchzuführen. Fußballer trainieren nicht, indem sie einfach immerzu Fußball spielen, sondern sie dribbeln, passen, schießen aufs Tor – sie führen isolierte Handlungen in sehr, sehr vielen Wiederholungen aus, die extra aus den komplexen Spielsituationen herausgelöst wurden, um geübt werden zu können. Das ist das Gegenteil von mathematischen Aufgaben, um die herum künstlich mehrere Schichten an Sachzusammenhängen errichtet wurden!
Übung heißt: Etwas Einfaches so oft machen, bis es ohne viel bewussten kognitiven Aufwand fehlerlos und schnell ausgeführt werden kann. Das ist mit den modernen Mathematikbüchern kaum möglich.
Vergleicht man obige Beispiele zu den Themen „Klammern auflösen“ und „Ausmultiplizieren“ im alten und neuen Buch, zeigt sich dies sehr deutlich. Beides sind rein mathematische Techniken, die auch ein „kompetenzorientiertes“ Buch nicht unter den Tisch fallen lassen kann, da es sich um elementare Rechenfertigkeiten handelt.
Selbst bei solch rein innermathematischen Themen zeigt sich im Vergleich jedoch ganz krass, wie der Erwerb von Routine mit modern gestalteten Büchern fast unmöglich ist. Damit verstärkt sich auch die emotionale Anspannung und evt. Angst vor der Mathematik, denn Prüfungsangst ist oft das vage Bewusstsein der fehlenden eigenen Routine.
Was muss sich ändern?
Aus dieser Analyse ergeben sich drei Forderungen an den Mathematikunterricht, damit Kinder endlich wieder eine Chance haben, solide Kompetenzen mit vertretbaren Aufwand zu erwerben:
- Haltet Euch an didaktische Grundregeln! Erklärungen sollen von Problemen ausgehen, aber dabei so wenig Ballast wie möglich enthalten. Gute Didaktik geht vom Leichten zum Schwierigen, setzt fachbezogene Werkzeuge sachgemäß ein, stellt Anwendungsaufgaben ans Ende, nicht an den Anfang, und verwechselt nicht Pflicht und Kür.
- Respektiert Eure Schüler! Das bedeutet: Bücher müssen Schülern Gelegenheit geben, durch viele Übungen große Sicherheit im Umgang mit den mathematischen Werkzeugen zu erlangen. Zugleich dürfen diese Übungen aber nicht künstlich so aufgebläht werden, dass sie durch „kreative“ Gestaltung die Zeit der Schüler verschwenden. Schüler haben tatsächlich eine Menge zu tun, gerade wenn sie gut sein wollen. Übungen müssen daher den größtmöglichen Effekt pro 15 Minuten haben.
- Steht zur Mathematik! Die Fachschaft Mathematik kann den Kollegen der anderen Fächer gerne Anwendungsaufgaben bereitstellen, wenn sie engagiert und kreativ ist. In Erdkunde, Biologie, aber auch Musik gibt es dafür gute Möglichkeiten. Sprachförderung gehört in den Deutschunterricht – ob PISA mehr sprachliche oder praktische Aufgaben fordert, darf nicht das entscheidende Kriterium sein. Mathematik zu verstehen und mit mathematischer Sprache mathematische Sachverhalten bearbeiten zu können, muss wieder das Unterrichtsziel werden. Das gilt besonders für die Gymnasien: Die haben nuneinmal einen andere Bildungsauftrag als Haupt- und Realschulen. Wir verdanken Mathematikunterricht den Menschen, die das 3000 Jahre lang gewürdigt haben. Werft dieses Erbe nicht leichtfertig weg!