„Schreibe genauer von der Tafel ab!“. Wirklich?
Einer sehr häufiger Beobachterfehler in der Grundschule betrifft das Abschreiben von der Tafel oder einer Vorlage. Folgendes passiert: Ein Kind schreibt ein Wort falsch, das richtig an der Tafel oder weiter oben auf dem Arbeitsblatt stand. Die Lehrkraft denkt fälschlicherweise, das Kind hätte sich nicht konzentriert, nicht aufgepasst und deshalb das Wort falsch geschrieben. Deshalb wird es zu mehr „Genauigkeit“ gemahnt. Das sieht dann ungefähr so aus:
Worin besteht der Beobachterfehler? Die Lehrkraft denkt in etwa Folgendes: „Das Kind hatte eine Vorlage für das Wort. Es hat sie aber nicht genau beachtet. Ungenau ist man, weil man sich nicht konzentriert und weil man nicht pflichtbewusst und gründlich arbeitet. Also muss das Kind lernen, genauer, sorgfältiger zu arbeiten. Mit mehr „Genauigkeit“ kann es richtig abschreiben“.
Dabei wird verkannt, was tatsächlich beim Abschreiben von der Tafel passiert: Das Kind liest das Wort, das an der Tafel steht. Es merkt sich das Wort. Dann wendet es sich seinem Heft zu und beginnt, das Wort aufzuschreiben. Dabei denkt es an das Wort, und zwar primär an dessen Bedeutung und Klang. Nur sehr gute Rechtschreiber haben schon fast alle Schreibungen automatisiert. Sie können in diesem Moment auch die richtige Schreibung, die mit Bedeutung und Klang verknüpft ist, ohne Weiteres abrufen. Das kann man aber nicht in den niedrigeren Jahrgängen und nicht bei allen Schülern selbstverständlich erwarten. Ein Schüler schreibt das Wort in dem Moment, wo er den Stift auf das Papier setzt, eben nicht „von der Tafel ab“, sondern er schreibt die Zeichenkette, die für ihn zu dem Wort (als Bedeutung und Klang) gehört, das er sich beim Lesen des Tafelanschriebs gemerkt hat. Und über die Richtigkeit dieser Zeichenkette entscheidet das Rechtschreibwissen des Schülers, nicht die Vorlage. Wenn der Algorithmus „kurzer Vokal + ein gehörter Konsonant => Verdoppelung, aber bei k statt Verdoppelung ck“ nicht sicher gelernt wurde, entsteht wie oben der Fehler „diker“. Dieser Fehler entspringt dem mangelhaft automatisierten Rechtschreibkönnen. Das Kind fällt für dieses Wort auf eine alphabetische Strategie zurück. Ungenauigkeit ist nicht die Fehlerquelle.
Freilich wäre es gut, wenn man mit den Schülern trainierte, ihre Hefteinträge immer mit dem Tafelanschrieb abzugleichen oder Wörter, die auch anderswo auf einem Arbeitsblatt vorkommen, mit dem selbst Geschriebenen zu vergleichen. Aber das muss eben geübt und an mehreren Tagen pro Woche im Unterricht durchgeführt werden, damit diese Art der Selbstkontrolle den Schülern zur Gewohnheit wird. Wenn das geschieht und ein Kind ist dennoch zu bequem, zu narzisstisch oder zu vergesslich, um sich selbst zu kontrollieren, dann darf man es auffordern, „genauer“ abzuschreiben. Am besten, indem man sich bemüht, die erzieherischen Ursachen dieser mangelnden Sorgfalt oder Selbstkritik zu verstehen.
Aber das setzt wie gesagt voraus, dass die Lehrkraft zwischen Rechtschreibwissen und Routine der Selbstkontrolle unterscheidet und beides zuverlässig aufgebaut hat.
Dieses verbreitete Missverständnis führt also zu sachlich unzutreffenden Einschätzungen. Das erschwert die richtige Reaktion, die passende Förderung. Es führt auch zu einer ungerechten Beurteilung und befördert die überhäufige „Diagnose“ von Konzentrationsstörungen. Dies führt wiederum zu falschen, unpassenden Hilfsmaßnahmen für das Kind, falls welche getroffen werden, oder zu einer unzutreffend negativen Bewertung des Kindes als unaufmerksam oder nachlässig. Die Gefahr besteht, dass ein Kind in diesem Fall als schlampig wahrgenommen wird, woraufhin pasesnde Förderung ausbleibt, da man der Ansicht ist „Wenn es sich nur mehr anstrengte, könnte es viel bessere Noten haben“. Solche vermeintlich kleinen Beobachterfehler müssen wir ernst nehmen, da sie als demotivierender Faktor und Wurzel falscher Förderplanung größere Wirkung haben können als erwartet.