Mutet uns Harald Martenstein zu!
Mehr als einmal haben wir darüber geschrieben, dass man Kindern etwas zumuten muss, damit sie sich etwas zutrauen können. Wer hingegen seine Kinder verwöhnt, will ihnen alles Unbehagen, alle Unlust und allen Schmerz ersparen. Das macht aus ihnen undankbare Egoisten und Menschen, die wahre Liebe nicht von bloßer Sentimentalität unterscheiden können. Offenbar sind heute große Teile unserer Gesellschaft solche gealterten Kinder. Warum sonst erleben wir in den letzten Jahren Übergriffe selbsternannter Gouvernanten aus den Redaktionen von Zeitungen, Fernsehen und sozialen Medien auf unsere intellektuelle Belastbarkeit?
Der jüngste Schlag mit dem Rohrstock hat unseren geschätzten Gastautor Harald Martenstein getroffen. Er hat es gewagt, der Leserschaft des Tagesspiegels seine Beobachtungen zur Verharmlosung des Holocaust zuzumuten. Mit Recht weist er darauf hin, dass auch der beleidigende Vergleich konservativer Politiker mit Hitler eine Verharmlosung des Holocaust darstellt – wofür sich Politiker aus dem linken Spektrum aber keineswegs schämen. Er stellt korrekt fest, dass es inkonsequent ist, wenn die selben Personen nun Demonstranten Antisemitismus unterstellen, die sich – übertrieben und dumm, freilich – als Impfgegner mit den verfolgten Juden gleichsetzen. Es ist vollkommen egal, ob man Martensteins Meinung teilt: Es gilt, sie auszuhalten. Wozu gibt es Pressefreiheit, wenn Presse nur gleichgeschaltet ertragen wird? Was für jämmerliche, verzogene und weinerliche Memmen müssen die Leser in den Augen der Redakteure sein, wenn man ihnen diese völlig vernünftigen Überlegungen nicht zumutet? Die egozentrischen Horden auf Twitter und Facebook schreien laut und aggressiv wie ein verwöhntes Kind, das seinen Spinat nicht essen mag – und die Redaktion, die offenbar kein Gesäß in ihrer hinteren Schambehüllung trägt, löscht daraufhin den unliebsamen Beitrag.
Passend zu allerlei Ratgebern, die Übersensibilität schönreden, wird hier ein unreifer Teil der Gesellschaft wie ein tyrannisches Kind hofiert und in seiner selbstgerechten Überempfindlichkeit bestärkt. Wie die Philosophin Svenja Flaßpöhler in ihrem neuen Buch „Sensibel“ schreibt: „Wird die Sensibilität verabsolutiert, führt sie zu einem problematischen Menschenbild. Wenn Wörter mit Verletzungsrisiko weiträumig zu umgehen … sind; … wenn Menschen ihre Arbeit verlieren, weil sie sich angeblich verletzend geäußert haben, dann sind Freiheit und Autonomie in Gefahr. Überspitzt formuliert: Der Mensch droht zu einer offenen Wunde zu werden, die vor jedem Infektionsrisiko zu schützen ist.“ Eine Gesellschaft, die solche Entwicklungen zulässt, muss sich nicht wundern, dass auch ihre Jugendlichen immer weniger Resilienz aufweisen.
Diese Entwicklung verhindert nicht nur Resilienz gegenüber Andersdenken. Sie untergräbt nicht nur gesellschaftliche Solidarität, in der man sich für die Freiheit des Gegners genauso einsetzt wie für die eigene. Sie zerstört nicht nur echte Toleranz, die nämlich nicht Meinungskonformität, sondern einander auszuhalten und in Liebe zu ertragen bedeutet. Sie trägt auch totalitäre Züge.
Karl Popper warnt vor diesen Entwicklungen bereits in „Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde“: „der Ausspruch, daß „die Zukunft des Staates von der jüngeren Generation abhängt und daß es daher Wahnsinn sei, zuzulassen, daß der kindliche Geist von persönlichem Geschmack geformt wird“, scheint mir totalitären Methoden Tür und Tor zu öffnen. Man darf nicht so leichthin das Interesse des Staates zur Rechtfertigung von Maßnahmen beschwören, die die kostbarste Form der Freiheit, die intellektuelle Freiheit, bedrohen.“
Die Cancel Culture ist eine schwerwiegende Einschränkung der intellektuellen Freiheit, und sie geschieht in vorauseilendem Gehorsam gegenüber Gruppen, die nicht zulassen möchten, dass der Geist der Leser oder Bürger von gewissen Autoren, Kabarettisten oder Forschern geformt wird. Die Demonstranten, die unpassend versuchen, ihr Unbehagen durch taktlos verwendete Judensterne auszudrücken, meinen vielleicht einfach das, was Popper im selben Atemzug so beschreibt:
Er lehnt eine Staatsform ab, „die dem Staatsbeamten die Macht gibt … zu bestimmen, wie die Wissenschaft gelehrt werden soll; die die fragwürdige Autorität des Fachmanns durch die Gewalt des Staates deckt; die die Wissenschaft durch die (leider übliche) dogmatisch-autoritäre Lehrmethode zugrunde richtet und den wissenschaftlichen Forschergeist zerstört – den Geist des Suchens nach der Wahrheit im Gegensatz zum Geist des Glaubens, die Wahrheit zu besitzen.“
Die wahrhaft offene Gesellschaft hält den Diskurs aus. Nur die geschlossene Gesellschaft, die totalitäre und stammesartige Züge trägt, muss durch Tabus am Leben erhalten werden. Nur in der geschlossenen Gesellschaft verhindern autoritäre Organe die Urteilsfähigkeit der Bürger, damit die den Kaiser nicht als nackt erkennen. Nur in der geschlossenen Gesellschaft päppeln Machthabende bürgerliche Empfindlichkeiten, um sie für ihre eigenen Zwecke missbrauchen zu können. Wir möchten unseren Lesern Urteilsfähigkeit zutrauen und Meinungen zumuten, für die wir niemanden um Erlaubnis zu fragen brauchen. Daher geben wir hier den Artikel von Harald Martenstein wieder, damit er im Netz auffindbar bleiben möge. Denken Sie darüber, was Sie wollen – aber denken Sie!
Mit herzlichen Grüßen, Miriam Stiehler & Erwin Breitenbach
Kolumne Tagesspiegel 6. Februar 2022
Anfang Januar 2012 demonstrierten in Jerusalem ultraorthodoxe Juden gegen die Regierung, viele trugen dabei den „Judenstern“ aus der NS-Zeit. Ihrer Ansicht nach verhielt sich der Staat Israel ihnen gegenüber so ähnlich wie die Nazis. Auch beim „Marsch gegen Islamophobie“, 2019 in Paris, waren Judensterne zu sehen, nur mit fünf Zacken statt sechs.
Laut Godwins Gesetz, benannt nach einem US-Autor, taucht in jeder öffentlichen Diskussion von emotionaler Bedeutung irgendwann ein Nazi-Vergleich auf. Godwins Gesetz kommt der Wahrheit ziemlich nah. Dass Donald Trump, Wladimir Putin, Sebastian Kurz oder die AfD heute mit Hitler oder der NSDAP verglichen oder gar gleichgesetzt werden, versteht sich von selbst, obwohl sich dabei Historikern die Fußnägel hochrollen und man so etwas durchaus „Verharmlosung des Holocaust“ nennen könnte. Origineller war die britische Zeitschrift „New Statesman“, als sie Angela Merkel „die gefährlichste deutsche Führungspersönlichkeit seit Adolf Hitler“ nannte, originell sind auch Vergleiche der NSDAP mit der CSU (etwa durch den SPD-Politiker Florian von Brunn). Den Vogel abgeschossen hat wohl Dieter Dehm, Linkspartei, als er die Bundespräsidentenwahl 2010 so kommentierte: „Was würden Sie machen, wenn Sie die Wahl hätten zwischen Hitler und Stalin?“ Zur Wahl standen Joachim Gauck und Christian Wulff.
Wer den Hitlervergleich bemüht, der natürlich nie stimmt, möchte sein Gegenüber als das absolut Böse darstellen, als Nichtmenschen. Der Vergleich will Hitler gerade nicht verharmlosen, er macht ihn zu einer Art Atombombe, die einen politischen Gegner moralisch vernichten soll. Der Judenstern dagegen soll seine modernen Träger zum absolut Guten machen, zum totalen Opfer. Er ist immer eine Anmaßung, auch eine Verharmlosung, er ist für die Überlebenden schwer auszuhalten. Aber eines ist er sicher nicht: antisemitisch. Die Träger identifizieren sich ja mit den verfolgten Juden. Jetzt, werden auf Corona-Demos häufig Judensterne mit der Aufschrift „ungeimpft“ getragen. Von denen, die das „antisemitisch“ nennen, würden wahrscheinlich viele, ohne mit der Wimper zu zucken, Trump mit Hitler und die AfD mit den Nazis vergleichen. Der Widerspruch in ihrem Verhalten fällt ihnen nicht auf.
Ein Supermarktleiter hat vor ein paar Jahren seine Sekretärin, die ihm wohl zu dominant auftrat, mit den Worten „Jawohl, mein Führer!“ gegrüßt. Sie klagte, wegen Hitlervergleichs, er wurde fristlos entlassen. In zweiter Instanz wandelte ein weises Gericht die Kündigung in eine Abmahnung um. Die einzige Kirche, der ich angehören möchte, ist die, die man im Dorf lässt. Dieses Zitat stammt von dem „konkret“-Chefredakteur Hermann L. Gremliza, einem meiner Jugendidole.