Hilft SPRITZ, in der Zeile zu bleiben? Typische Lesefehler (2): Regression
Letzte Woche ging es um den Lesefehler der Regression und die damit verbundenen Probleme. Heute stelle ich eine Methode vor, die diese Probleme auf den ersten Blick komplett ausschaltet, da sie Sakkaden überflüssig macht: SPRITZ. Was ist das und was ist davon zu halten?
Die Lesetechnik „Spritz“ ist der Versuch, für Menschen mit Leseproblemen oder an sehr schnellem Lesen interessierte Menschen Regression überflüssig zu machen – und zwar unabhängig davon, ob es sich hier um ein Problem der Sakkaden und Blickbewegungen oder der Konzentration handelt.
Wer es ausprobieren möchte, kann über diesen Link einfach mal einen unserer Artikel spritz-lesen und über diesen hier zum Vergleich einen Roman, „Durch die Wüste“ von Karl May.
Die Auffassung hinter Spritz ist, dass das traditionelle Abtasten von Zeilen mit den Augen Zeitverschwendung ist und überhaupt erst zu Regressionen verführt, die mit schlechterer Konzentration einhergehen und den Lesefluss unnötig verlangsamen. Beim „traditionellen Lesen“ müssen die Augen bei jeder Sakkade neu fokussieren. Dabei wird im Gehirn bei jedem Scharfstellen des Blicks eine Entscheidung getroffen über den idealen Fokuspunkt des Wortes oder der Wortgruppe, das als nächstes gelesen werden soll. „Spritz“ ist eine Bildschirmdarstellung, die ohne jede seitliche Fließbewegung (der Text rollt nicht durch den Bildschirm) die Wörter des Textes nacheinander einblendet und dabei diesen idealen Fokuspunkt rot markiert. So ist es vollkommen überflüssig, wie bei der RSVP (Rapid Serial Visual Presentation, also dem traditionellen Lesen) andauernd die Augen zu bewegen und neu zu fokussieren. Die Augen bleiben auf einen einzigen Fokuspunkt gerichtet. Regress ist nicht möglich, da immer nur ein Wort auf dem Bildschirm zu sehen ist. Weil das so ist, bleibt der Leser die ganze Zeit in einem leicht angespannten Zustand, sozusagen mental auf der Stuhlkante, um nichts zu verpassen. Manche sehen hierin einen Nachteil für das gemütliche Schmökern, andere loben das intensivere Eintauchen in Texte gerade durch diese äußerst intensive Fokussierung. Fest steht, dass für gute Leser eine sehr hohe Lesegeschwindigkeit mit dieser Methode möglich ist.
Der Charme von Spritz liegt darin, dass es an die individuelle Zone der nächsten Entwicklung angepasst werden kann – der Textfluss lässt sich in entsprechenden Apps auf einen beliebigen Wert von Wörtern pro Minute einstellen. Außerdem erfordert es keinerlei langwierige Trainings. Anstatt stundenlanger Augengymnastik, Erweiterung der Blickspanne etc. muss man sich nur dem Textfluss auf der gerade noch bewältigbaren Geschwindigkeit „hingeben“ und die Geschwindigkeit z.B. alle zwei Tage um 1 WPM steigern. Zumindest theoretisch ist es so unkompliziert möglich, seine Lesegeschwindigkeit z.B. von 150 WPM auf 300 WPM zu verdoppeln. Ich habe keine persönlichen Erfahrungen mit der Dauer einer solchen Verdoppelung in Spritz bei Legasthenikern; aktuell läuft an der Coventry University eine Studie zur Evaluierung von Spritz für Legastheniker (http://dmll.org.uk/projects/spritz/) und die Macher selbst berichten von zufriedenen Schülern aus ihrer eigenen Evaluation. Andererseits habe ich auch in der Praxis erlebt, dass gute Leser mit der Methode von Ott ihre Lesegeschwindigkeit von 250 auf 400 – 600 WPM innerhalb von 40 Tagen gesteigert haben – allerdings ebbte dieser Effekt auch nach wenigen Monaten wieder ab, wenn die Übungen nicht regelmäßig wiederholt wurden.
Kritik an Spritz: Da das Anzeigefeld auf 13 Buchstaben begrenzt ist, werden längere Wörter häufig getrennt. Einerseits kommt das schwächeren Lesern mit nicht besonders breiter Blickspanne entgegen. Andererseits stört das beim Lesen. Ob es nun aber schwieriger ist, ein längeres Wort aus zwei aufeinanderfolgenden Teilen zusammenzusetzen, oder beim „traditionellen“ Lesen die Morphemgrenzen selbst zu finden und das Wort aus seinen Bestandteilen zu erschließen, darüber kann man streiten. Roschke und Radach monieren, dass alle Wörter bei Spritz ungefähr gleich lang angezeigt werden (längere Wörter nur wenig länger). Man hat, so die Kritik, nicht die Wahl, ein lexikalisch schwieriges Wort länger zu fixieren.
Das ist ein zweischneidiges Problem, über das ich auch mit Prof. Breitenbach intensiv diskutiert habe: Man kann mit gewissem Recht sagen, dass Regressionen notwendig sind, selbst wenn sie einen Teil des Problems darstellen. Ein schwacher Leser ist bisweilen darauf angewiesen, Wörter mehrmals zu lesen, ehe er sie versteht, und genau das ist mit Spritz nicht möglich. Andererseits kann man in Spritz die Chance sehen, aus dem schwachen Leser einen stärkeren zu machen.
Entscheidend scheint dazu, so zumindest mein bisheriges Fazit aus der Diskussion, die Ursache der Leseschwäche zu sein: Wenn primär Konzentrationsprobleme vorliegen, stellt Spritz meiner Meinung nach eine Hilfe dar, die bis zum Erreichen der Schwelle von 150WPM unbedingt weiter erforscht und ruhig auch in der Praxis ausprobiert werden sollte.
Wer einmal konzentriert 150 WPM pro Minute liest, kann kaum noch als leseschwach gelten; ab diesem Punkt würde ich aus Lesegenuss-Sicht sagen, dass Spritz sich nicht als primäres Lektüremittel eignet, sondern als gezieltes Trainingsinstrument zur weiteren Steigerung der Lesegeschwindigkeit die beste Anwendung findet.
Schüler, die hingegen einzelne Laut-Zeichen-Verbindungen nicht beherrschen oder wichtige Basismorpheme nicht auf einen Blick lesen können, würden meines Erachtens sehr stark von einer App profitieren, die genau dies anbietet: konzentriertes, schnelles Erlesen von Buchstaben, Silben und Morphemen. Das wäre die papierlose Version der äußerst erfolgreichen IntraAct Methode, und davon würde ich persönlich mir sehr viel versprechen.
Unabhängig davon kann das seltenere Blinzeln durch das dauerhaft gerade Fokussieren zu trockenen Augen führen; man sollte ähnlich der Pause beim Umblättern wiederholt kurz innehalten, um Ermüdungserscheinungen vorzubeugen. Auch gestalterische Mittel wie ein bestimmtes Layout oder Absätze gehen bei Spritz völlig verloren, und Sachtexte mit Tabellen lassen sich gar nicht sinnvoll damit lesen.
Literatur:
K. Roschke und R. Radach, „Perception, Reading and Digital Media“, S. 42ff. in: Carol McDonald Connor (Hrsg.): The Cognitive Development of Reading and Reading Comprehension; London, 2016