Auditives Wahrnehmungstraining bei LRS – macht keinen Sinn.
Höher geistige Funktionen oder Leistungen wie Lesen und Schreiben gelingen uns nur – so behaupten es zumindest die Neuropsychologen –, wenn sich eine Vielzahl von Teilfunktionen zu einem integrierten Gesamtsystem zusammenschließen. Im Zusammenhang mit Schriftsprache gehören selbstverständlich die Funktionen aus dem auditiven Verarbeitungssystem zu den wesentlichen Teilen des ganzen Systems.
Als Teilfunktionen aus dem auditiven Bereich sind im Zusammenhang mit dem Schriftspracherwerb folgende bedeutsam:
– Differenzierung
Hierbei handelt sich selbst um eine äußerst komplexe Teilleistung. Höreindrücke (Geräusche, Sprache, Musik) müssen nämlich anhand zahlreicher Kategorien differenziert werden: gleich – verschieden, hoch – tief, laut – leise, kurz – lang, schnell – langsam, bekannt – unbekannt, sinnvoll – sinnlos, um nur die wichtigsten zu nennen. Diese Differenzierungen sind alle bedeutungstragend. Das heißt, sie helfen uns, wenn wir andere verstehen oder uns ausdrücken möchten. Neugeborenen gelingt es bereits kurz nach der Geburt, Sprache von Geräuschen zu unterscheiden. Glaubt man den entsprechenden Untersuchungen, erkennen sie sogar die Musik wieder, die ihre Mutter während der Schwangerschaft häufig gehört hat.
– Konstanzerleben
Gleichzeitig mit dem Unterscheiden entwickeln wir Menschen genau die gegenläufige Fähigkeit. Während wir bei der Differenzierung auf feine Unterschiede achten, lernen wir im selben Atemzug beim Konstanzerleben, solche Unterschiede zu ignorieren. Wir erkennen Hörereignisse als gleich, obwohl sie gar nicht gleich sind, sondern ganz unterschiedlich klingen. Verschiedene Menschen mit verschieden klingenden Stimmen rufen unseren Namen in unterschiedlicher Lautstärken und Mundarteinfärbung. Völlig unbeeindruckt von dieser Verschiedenheit und unbeirrt wissen wir selbstverständlich, dass wir gemeint sind.
– Figur-Grund-Wahrnehmung
Das Cocktailparty-Phänomen macht deutlich, was gemeint ist: Während einer Cocktailparty werden zahlreiche Gespräche gleichzeitig in einem Raum geführt, die wir als Partygast je nach Abstand und Interesse mehr oder weniger deutlich verstehen. Kommt jedoch ein Gast auf uns zu und beginnt ein Gespräch mit uns, so werden schlagartig alle bisher wahrgenommen Gespräche zu einer Art Kulisse, werden in den Hintergrund gedrängt und das, was unser Gesprächspartner sagt, steht im Vordergrund und wird von uns in der Regel ohne Probleme verstanden.
Kinder, denen das nicht so gut gelingt, werden manchmal vor allem in Gruppensituationen ungerecht behandelt, mit weitreichenden Folgen. Sie sind nämlich diejenigen, die Lehrer, Erzieher und Eltern nerven, weil sie bei Anweisungen ständig nachfragen. Das zweifelsfreie Heraushören der Anweisung aus dem Geräuschpegel einer Gruppensituation war ihnen nicht möglich. Für die Erwachsenen ist es naheliegend, ein solches Verhalten fälschlicherweise als Unaufmerksamkeit zu interpretieren. Das Kind war wieder einmal mit allem möglichen Anderen beschäftigt, nur nicht mit dem, was jetzt wichtig ist. Es hat nicht richtig zugehört und handelt sich mindestens eine Rüge, wenn nicht mehr ein. Wenn man trotz Anstrengung immer wieder den Misserfolg einfährt und obendrein dafür auch noch bestraft wird, scheint sich diese Anstrengung nicht sonderlich zu lohnen. Auf Seiten des Kindes liegt es also nahe, den sicheren Misserfolg und die negative Konsequenz anstandslos und routinemäßig zu kassieren, sich aber die vorherige Anstrengung zu sparen. Nun ist dieses Kind tatsächlich unaufmerksam, aber als Folge des Nicht-verstanden-werdens durch den Lehrer oder Erzieher.
– Sequenzen erkennen und behalten
Hörendes Verstehen braucht nicht nur das unterscheidende Wahrnehmen einzelner Ereignisse, sondern vor allem auch das Erkennen und Behalten der einzelnen Ereignisse in ihrer zeitlichen Abfolge, in ihrer Sequenz. Geräuschgeschichten sind nur zu verstehen, Lieder können nur nachgesungen werden, wenn die Reihenfolge der Geräusche und Töne beachtet wird. Dass beim Sprechen, Lesen und Schreiben die Sequenz der Laute, Buchstaben, Wörter und Sätze von zentraler Bedeutung ist, dürfte jedem spontan einleuchten.
Kommen wir nun zum Zusammenhang von auditiven Wahrnehmungsstörungen und Lese-Rechtschreibproblemen:
– Können ähnlich klingende Laute wie z.B. b und d, g und k, g und b, t und d nicht eindeutig diskriminiert werden, führt das zwangsläufig zu entsprechenden Verwechslungen sowohl beim Sprechen als auch beim Schreiben. Grundlage der Phonem-Graphem-Korrespondenz (einem Laut wird ein Lautzeichen zugeordnet) ist die korrekte Unterscheidung der einzelnen Laute. Manche Dialekte sind diesbezüglich besonders hinderlich und stellen die Kinder vor schier unlösbare Differenzierungsaufgaben. Ein Kind das fränkische Mundart spricht, kann den Unterschied zwischen d und t oder g und k weder bei sich noch bei anderen Franken hören und damit auch nicht verschriften. Deswegen gibt es auch nur in Franken ein weiches d und ein hartes d…
– Eine für das Rechtschreiben besonders wichtige Differenzierungsleistung ist das Wahrnehmen und Beachten von Vokallängen. Erkennt ein Kind nicht, dass der Vokal in einem Wort lang und in einem andern kurz gesprochen wird, kann es die Rechtschreibregel zur Dehnung und Dopplung beim besten Willen nicht anwenden.
– Da Sprache von der Sequenz lebt, hat es verheerende Folgen, wird sie nicht beachtet oder durcheinandergebracht. Verändere ich die Lautfolge in einem Wort, entsteht ein neues oder sinnloses Wort. Ich werde nicht verstanden oder missverstanden. Das Gleiche gilt für das Schreiben. Nur wenn es mir gelingt, die Lautfolge eines Wortes korrekt abzuhören, kann ich für jeden gehörten Laut ein mögliches Zeichen schreiben und auf dem Blatt steht dann auch wirklich das gehörte Wort.
Für die Diagnose dieser im Zusammenhang mit Schriftsprache bedeutsamen auditiven Wahrnehmungsstörungen existieren keine speziellen Testverfahren (die Differenzierungsprobe von Breuer und Weuffen einmal ausgenommen). Man findet diese Auffälligkeiten nur über eine entsprechende Fehleranalyse. Rechtschreibtests, die eine qualitative Auswertung und damit auch eine Analyse der Rechtschreibfehler anbieten (z.B. Diagnostischer Rechtschreibtest – DRT, Deutscher Rechtschreibtest – DERET) sind hier hilfreich.
Funktions- oder Wahrnehmungstrainings, die eine isolierte Förderung der oben beschriebenen Teilfunktionen der auditiven Wahrnehmung ermöglichen und versprechen, wirken sich nachgewiesenermaßen nicht positiv auf die Rechtschreibleistung aus. Eine effektive Förderung ist nur im Zusammenhang mit dem Schreiben und Rechtschreiben möglich. Und dies ist eine durch viele Studien gesicherte Erkenntnis. Deswegen gibt es in neueren Rechtschreibförderprogrammen (z.B. im Würzburger orthographischen Training – WorT) auch Module oder Übungseinheiten, die sich speziell und gesondert mit Rechtschreibproblemen beschäftigen, bei denen Lautdifferenzierungen oder sequentielle Lautanalysen und Lautsynthesen bedeutsam sind. Diese Förderprogramme sind oft so gestaltet, dass sie gut als individuelle Förderung modulspezifisch in den Unterricht integrierbar sind. Unabdingbare Voraussetzung für eine wirkungsvolle Förderung der Lautdifferenzierung und Lautanalyse ist ein intakte Hörvermögen. Ein vorheriger Besuch beim HNO-Arzt mit Hörprüfung (Audiogramm) ist eigentlich verpflichtend.
Sie sprechen mir aus dem Herzen. Aber viele Trainer mit der Ausbildung nach EÖDL schwören auf gesonderte Wahrnehmungstrainings, was ich immer wieder in Foren feststelle. Ich erlebe die z.B. von Kopp-Duller beschriebenen Wahrnehmungsstörungen immer als falsche Lesestrategie, meist als einfach zu schnelles Lesen.
Ich stimme Ihnen zu, dass genaues Hinschauen ans Licht bringen kann, dass schlicht eine mangelnde Übung oder falsche Lernstrategie das Problem ist und nicht eine wie auch immer geartete Störung im Hintergrund. Das ist gut, denn Lernstrategien sind deutlich leichter zu ändern.
Erscheinungsdatum Würzburger orthographischen Training ist 2009? Ist das noch aktuell/gut? Lauttreue Wörter sind auch umstritten. Gibt es diese wirklich? Mfg
Hallo S.,
unseres Wissens ist das WorT nach wie vor in der 1. Auflage von 2009 erhältlich, z.B. bei der Testzentrale.
Was lauttreue Wörter angeht: Umstritten ist wohl nicht deren Existenz, das wäre nach gängiger Sicht kaum haltbar – zumindest müsste man dann sagen, dass es schon aufgrund der im Deutschen gar keine lautgetreuen Wörter geben kann, auch nicht „Oma“ u.ä., weil bei uns nicht (wie z.B. im Ungarischen) die Vokallängen und -kürzen eindeutig markiert sind (Nach ungarischer Schreibung müsste man Ómá schreiben um es vom rheinischen „Omma“ mit offenem kurzem O zu unterscheiden). So kann man das sehen, muss man aber nicht. Man kann auch sagen, lautgetreu sind alle Wörter, die nur Grapheme enthalten, welche aus einem Buchstaben bestehen, aber keine Grapheme aus 2 oder 3 Buchstaben (wie ei, au, sch, ie…). Insgesamt darf man wohl sagen, dass die Einteilung in angeblich lautgetreue und nicht lautgetreue Wörter der Sache wenig dienlich ist; wir arbeiten übrigens aktuell an Lesematerial für Kinder, das dieses Problem umschifft und ganz anders angeht. Auch beim isb-Verlag von Günther und Dorothea Thomé finden Sie einiges gutes Material dazu.
Ein großes Problem ist schon seit Jahrzehnten, dass zu viele Lehrkräfte die Lauttreue der deutschen Sprache überschätzen. Der künstlich ausgesonderte Fibel-Wortschatz geht unzulänglich auf wichtige phonetische und orthographische Phänomene unserer Sprache ein und ist deswegen problematisch. Man denke nur an das lange (i), das man in über 80% der Fälle im Deutschen als „ie“ schreibt – trotzdem kommen in der Fibel der Biber, Tiger und Igel vor, aber selten die Biene, Wiese und der Riese.
Herzliche Grüße,
Miriam Stiehler
Mich würde interessieren: Auf welche Studien beziehen Sie sich hier konkret?
Welche anderen Ausbildung sind dann nach dem derzeitigen Wissensstand besser geeignet als EÖDL?
Danke.
Mit freundlichen Grüßen
Eva
Hallo Eva,
zunächst einmal muss ich mich bei Ihnen entschuldigen, dass ich so spät auf Ihre Frage antworte.
Bei meiner Aussage zur Effektivität von Wahrnehmungstrainings, die losgelöst von Sprache einzelne Wahrnehmungsfunktionen trainieren, beziehe ich mich auf eine Metaanylse (Zusammenfassung vieler Studien) von Ise, Engel und Schulte-Körne aus dem Jahr 2012. (Ise, E., Engel, R.R. & Schulte-Körne, G. (2012). Was hilft bei der Lese-Rechtschreibstörung? Ergebnisse einer Metaanalyse zur Wirksamkeit deutschsprachiger Förderansätze. Kind und Entwicklung, 21, 122-136).
Zusätzlich beziehe ich mich auf eigene „Uraltforschung“. In meiner Doktorarbeit konnte ich zeigen, dass unser Wahrnehmungstraining, das wir im Rahmen des staatlichen Schulversuches KEsT (Konzeption zur Eingliederung sprachbehinderter Kinder mit Teilleistungsstörungen) in Diagnose- und Förderklassen an Sprachheilschulen durchführten, zwar die Wahrnehmungsfunktionen verbessert hat, aber eben nicht signifikant die schulischen Leistungen. Die Kinder ohne zusätzliches Wahrnehmungstraining (pures Funktionstraining) lernten in der Schule genauso gut wie die von uns geförderten. (Breitenbach, E. (1992): Unterricht in Diagnose- und Förderklassen. Neuropsychologische Aspekte schulischen Lernens. Bad Heilbrunn: Klinkhardt). An den Jahreszahlen sehen Sie auch, dass es sich hier nicht um brandneue Erkenntnisse handelt, sondern um etwas, das eigentlich schon sehr lange bekannt ist.
Zur Ausbildung bei EÖDL oder zu alternativen Ausbildungskursen möchte ich mich hier an dieser Stelle nicht konkret äußern. Aber die „Lehrpläne“ der Ausbildungskurse geben ja recht gut Auskunft über Inhalte und Strategein der jeweiligen Ausbildung und Sie können sich über die entsprechenden Unterschiede leicht selbst ein Bild machen.
Herzliche Grüße
Erwin Breitenbach
Meine Tochter hat eine Wahrnehmungsstörung. Interessant, dass diese auch mit Lese-Rechtschreibproblemen herbeigeholt. So werde ich mit ihr zu einer Ergotherapie gehen.