Mathe-Abi zu schwer, Grundschule zu schlecht, Kindergarten zu schwach
Das Blame-Game um die erschreckend schlechte mathematische Bildung in Deutschland ist in vollem Gange: Die Abiturienten beschweren sich über die Gymnasien, die Gymnasien über die schlecht ausgebildeten Grundschüler, die sie übernehmen müssen, und die Grundschulen geben nun den Schwarzen Peter an die Kindergärten weiter. Was kommt als nächstes, Vorwürfe gegen die Hebammen, die die Ungeborenen zu wenig mit Mozart beschallen?
Fakt ist: Alle Ebenen unseres Bildungssystems sind mitschuldig an dieser Misere, denn alle haben daran mitgewirkt, bereits in vieler Hinsicht verwöhnten Schülern auch noch die Frustration von Fehlern zu „ersparen“, die Anstrengung des Übens zu erlassen und auf den vermeintlichen „Druck“ zu verzichten, auch solche Themen zu knacken, die sich nicht sofort spontan und emotional erschließen lassen.
Im Kindergarten soll alles frei, offen und „selbstbestimmt“ vor sich gehen, weswegen Kindergartenkinder heute kaum noch einen Stift richtig halten oder mit einer Schere sauber schneiden können. Die Mathematik mit ihren ewigen Gesetzen steht dem überbetonten Individualismus natürlich unvereinbar gegenüber, in der deutschen Pädagogik herrscht eine Pippi Langstrumpf Attitüde: 3 mal 3 macht 6 – und wer will schon so böse sein, dem armen, kreativen Kind zu sagen, dass das „falsch“ ist?
An den Grundschulen setzt sich diese Auffassung fort: Rechtschreibfehler anzustreichen ist „autoritär“, seitens mancher Eltern kommt reichlich Druck, den Kindern doch bitte keinen „Druck“ zu machen. Gleichzeitig haben seit den 70er Jahren Lehrer immer bereitwilliger die Lobbyarbeit von Elterngruppen unterstützt, die „Nachteilsausgleiche“ für ihre vielfältig von „Störungen“ geplagten Kinder einforderten. Denn auch für Lehrkräfte ist es viel einfacher, die schlechten Leistungen im Rechnen, Lesen und Schreiben einer Dyskalkulie oder Legasthenie anzulasten, als die Ursachen in der eigenen mangelhaften Methodik zu suchen. Die gleichzeitige fachliche Aushöhlung der Lehrpläne und die schleichende Leistungsfeindlichkeit in der Lehrerausbildung hat ihr übriges getan. Die aktuell wieder kritisierten Änderungen an der Subtraktionsmethode u.ä. sind nur Symptome der zugrundeliegenden falschen Einstellung zum Fach.
Die Gymnasien sind letztlich in gewisser Weise Opfer des Systems, denn man muss (bezeichnenderweise) die Mathematik schon vollkommen ignorieren, um zu glauben, das politische Ziel von 42% Abiturienten sei ohne eine deutliche Senkung der Leistungsansprüche zu erreichen. Es passt natürlich sehr gut zu der dahinter stehenden Ideologie, dass man solche unliebsamen Fakten wie die Gauß’sche Verteilung der Intelligenz schlicht ignoriert, wenn man fordert, dass immer mehr Schüler das Gymnasium besuchen sollen. Man leugnet mit dieser Ignoranz auch den Umstand, dass Intelligenz nunmal die Schlüsselqualifikation für gymnasiale Bildung ist (eine durchaus gewollte Gleichmacherei, s.u.). Jeder Psychologe weiß, dass nur knapp 16% jedes Jahrgangs eine überdurchschnittliche Intelligenz (IQ > 115) aufweisen. Selbst, wenn man also ein Drittel aller Schüler pro Jahr das Gymnasium besuchen lässt, bezieht man damit bereits eine große Bandbreite von Kindern ein, von denen dann die Hälfte nur durchschnittlich intelligent ist, die andere Hälfte mehr oder weniger ausgeprägt überdurchschnittlich. Mit noch höheren Übertrittsquoten verbessert man nicht die Bildung der Bevölkerung, sondern trocknet die Realschulen aus, indem man ihnen Schüler entzieht, die an dieser Schulart bestens aufgehoben und glücklich geworden wären. Am Gymnasium sind die selben Schüler überfordert – es sei denn, man nimmt den anderen Schülern die Möglichkeit, ihr Potential auszuschöpfen und senkt die Ansprüche. Selbst dann kommen die intellektuell schwächeren Schüler nur schwer über einen mittelmäßigen Schnitt hinaus, ganz abgesehen davon, dass die gesamte Schülerschaft darunter leidet, wenn in der Lernerziehung am Gymnasium auf Fleiß und harte Fakten immer weniger Wert gelegt wird. Mit Meinen statt Wissen und Können wird sich auch in der Gesellschaft der Zukunft kein Geld verdienen lassen. Die Gesellschaften, die dies verstanden haben, überholen Deutschland seit vielen Jahren nicht nur in den PISA-Studien.
Logische Folge ist der konkrete Zustand dieser Bildungseinrichtungen. Wir haben…
- Gymnasiallehrpläne, in denen vor lauter „Kompetenzorientierung“ kaum noch echte Kompetenzen erworben werden. In Mathematik werden unsäglich schlechte Schulbücher erstellt, an denen Schüler und Lehrer verzweifeln: Aus Verachtung von Übung und Automatisierung und mangels der Forderung, in den unsichtbaren Zusammenhängen der Mathematik Befriedigung zu finden, bestehen die Bücher größtenteils aus den didaktischen Bausteinen „Erklärung“ und „Sach- bzw. Anwendungsaufgabe“. Der unglaublich wichtige mittlere Baustein, die Übung der Rechentechniken, fehlt weitgehend, wie der Vergleich von Schulbüchern der 90er Jahre und aktuellen Büchern zum selben Thema zeigt. Heute sind die Aufgaben zwar durchgehend bunt bebildert, aber wer nicht gerade der größte Überflieger ist, verzweifelt an ihnen, weil er nie das Gefühl kennenlernt, sein Handwerkszeug sicher zu beherrschen. Kein Wunder, dass in der Diskussion um die neuen Diagnoserichtlinien zur Dyskalkulie 2018 das starke Bestreben zu erkennen war, „Mathematikangst“ als neue Diagnose einzuführen.
- Grundschulen, die rechenschwache Schüler erzeugen, weil die methodische Ausbildung und Praxis der Grundschullehrkräfte so schlecht ist. Fachwissenschaftlich fundierte Kritik wird hartnäckig ignoriert und der sensualistische, fachlich schlicht falsche Stiefel der letzten Jahrzehnte wird hemmungslos weiter gefahren. Selbst Lehrkräfte, die sich im Bereich Deutsch von den schädlichen Konzepten „Anlauttabelle“ und „Lesen durch Schreiben“ abwenden, zeigen eine bemerkenswerte Unkenntnis in Bezug auf die Mathematik. So fordern warnen z.B. Fachleute wie Michael Gaidoschik seit vielen Jahren, dass in der ersten Klasse der Zahlenraum bis 100 erarbeitet werden muss, sobald die Kinder die Mengen bis 10 auswendig addieren können. Stattdessen wird weiterhin hartnäckig daran festgehalten, nach dem Erreichen der 10 nur bis zur Menge 20 fortzuschreiten. Weil zugleich auf Automatisierung kaum Wert gelegt wird, überprüft kaum jemand, ob die Kinder zu diesem Zeitpunkt wenigstens 7+3 = ? in weniger als einer Sekunde beantworten können. Wenn man es fordert, kann man sich sicher sein, dass einige Kollegen und Eltern ob dieses „Drucks“ auf die Barrikaden gehen. Dabei ist eine so rasche Antwort das einzig sichere Zeichen für gelungene – und damit geistig entlastende, psychischen Druck gerade eben herausnehmende – Automatisierung. Weil die ganze erste Klasse hindurch nur bis zur 20 gerechnet wird, können die unsicheren Schüler weiterhin auf das Zählen ausweichen. Das ist für die Kinder mit viel seelischem Stress verbunden, da sie wissen, dass sie den Stoff nicht verstanden haben – aber sie merken auch, dass niemand darauf achtet und ihnen hilft. Im Gegenteil, Methoden wie „Nachbaraufgaben“ (14 + 3 = 17 weil 4 + 3 = 7) verstärken den Eindruck, Mathematik bestehe aus Tricks und leisten so einer Rechenschwäche Vorschub, denn Dyskalkulie bedeutet kaum etwas anderes als mangels Verständnis in (untaugliche) Rechentricks auszuweichen. Leider sind Lehrkräfte oftmals gar nicht in der Lage, diese Probleme zu erkennen, da sie die Fehleranalyse nicht beherrschen und nicht einmal erkennen, dass sie selbst bestimmte Fehlertypen wie den Klappfehler erzeugen.
- Kindergärten, deren offene Ansätze die nötige Schulreife verhindern. „Schulreife“ selbst ist bereits als Wort in weiten Teilen der Kindergartenpädagogik verpönt. Man gefällt sich vielerorts in der Rolle der netten Tanten, die den Kindlein keinerlei Verpflichtungen „aufbürden“, man lacht über den angeblichen „Ernst des Lebens“ und stellt empört klar, dass man schließlich kein „Zulieferbetrieb der Schule“ sei. Gleichzeitig werden bereits in den Kindergärten reihenweise Kinder in logopädische und ergotherapeutische Behandlung geschickt, so als sei es trotz teils 8stündiger Betreuung allein dem Elternhaus geschuldet, dass die Kinder nicht mit Sprache umgehen und bei der Sache bleiben können. Ein kaum beachteter Nebeneffekt dieser Situation: Kinder lernen die die erste prägende Bildungsinstitution ihres Lebens als Ort kennen, an dem sie primär sich selbst überlassen sind und tun können, wonach ihnen gerade ist. Ist es da erstaunlich, wenn es diesen Kindern in der Schule schwer fällt, Unlust oder Desinteresse auszuhalten und die notwendige Anstrengung an Konzentration aufzubringen? Und ist es wirklich hilfreich und sinnvoll, wenn Kindergärten die Schule negativ sehen, weil sie Kindern eine Struktur vorgibt, anstatt sie alles „frei entdecken“ zu lassen? Eher konservative Kindergärten, die notwendige Fertigkeiten konsquent ausbilden, sind in der Minderheit. Meist sind es kleine Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft, die aus Überzeugung und langjähriger Erfahrung gezielt Werhaltungen aufbauen und grundlegende Fertigkeiten vermitteln. Für sie besteht Erziehung aus weit mehr als nur beobachtendem Begleiten eines sich von selbst entfaltenden Individuums.
Und was ist die Ursache für diese Problematik ? Das gesamte Bildungssystem ist mittlerweile vom Sauerteig der laissez-faire Pädagogik durchgoren. Ideologisch verblendet möchte man unter dem Mäntelchen der „Chancengleichheit“ die utopische Gleichheit Aller herbeiführen und brandmarkt im Gegenzug das Bestehen auf individueller bestmöglicher Leistungsentfaltung als Egoismus. Aktuell werden die Belange von Menschen mit Behinderungen missbraucht, um dem gegliederten Schulsystem und dem Konzept „Leistung“ den Todessstoß zu versetzen: Es ist ja gut und richtig, dass kein Schüler auf den Besuch einer höheren Schule verzichten soll, nur weil körperliche Barrieren dem entgegenstehen. Kein Rollstuhlfahrer sollte eine weit entfernte Spezialeinrichtung besuchen müssen, weil das örtliche Gymnasium keine Rampe am Eingang besitzt. Geschenkt.
Aber die Entwicklung geht dahin, dass der Besuch jeder Schulart auch für solche Schüler eingeklagt werden kann, denen nicht nur körperliche, sondern geistige Barrieren im Wege stehen. Und eine geistige Einschränkung, geistige Behinderung ist ihrem Wesen nach nun einmal nicht überwindbar. Auch wenn uns manche Sonderpädagogen seit Jahrzehnten nach Sartre einzureden versuchen, die „Behinderung, das sind die anderen“, ist dies nicht wahr. Lernen setzt logisches Denken, Merkfähigkeit und sprachliche Gewandtheit voraus, und zwar umso mehr, je anspruchsvoller das Lernziel sein soll. Wenn nun im Namen der Inklusion Kinder mit geistiger Behinderung ihren Weg ans Gymnasium erklagen können, können das natürlich in logischer Folge auch alle Haupt- und Realschüler. Damit wäre dann endgültig der Weg zum kläglichen Mittelmaß für alle, aka Gesamtschule, geebnet, und intellektuelle Leistung wird in einem kruden Missverständnis von Demokratie und Freiheit beseitigt (genau wie die aus ihr im Erwachsenenalter folgende fachliche Autorität).
Das ist, pointiert zusammengefasst, die Bildungspolitik, die auf allen Ebenen vom Kindergarten bis zum Gymnasium für schlechtere mathematische Bildung gesorgt hat. Aus dem selben ideologischen Schoß (nämlich platonischem Idealismus und Marxismus) ist in den 90er Jahren der Irrweg der „ganzheitlichen Bildung“ gekrochen, bei dem es plötzlich salonfähig wurde, an Buchstaben zu riechen, statt Rechtschreibregeln zu üben. Aus der selben Wurzel stammt die Abneigung gegen den angeblich so bösen, „kalten“ Verstand, ohne dessen Wertschätzung mathematische Bildung nun einmal nicht funktioniert. Durch die Verschiebung der Schwerpunkte im Lehramtsstudium wurden die falschen Leute angezogen, während potentiell exzellente Lehrkräfte lieber andere Fächer wählten, in denen fachwissenschaftliches Können geschätzt wird und nicht verachtet.
Infolgedessen wird es mit einer erneuten oberflächlichen Reform nicht getan sein. Am Anfang müsste die eindeutige Entscheidung stehen, Bildung im klassischen Sinne wieder wertzuschätzen. Daraus folgend müsste man sicherstellen, dass Schüler korrekt schreiben und rechnen können, ehe man die „Digitalisierung“ vorantreibt. Aber selbst wenn dies geschähe, müsste man Jahre investieren, um die mit intensiver Propaganda erzeugten Einstellungen bei Lehrern, Eltern und Schülern zu verändern:
- Die nur mittels unqualifiziertem, ergo billigem Betreuungspersonal leistbare Ganztagsbeschulung müsste auf den Prüfstand, da sich zeigen würde: Eltern kontrollieren die Hausaufgaben zuverlässiger als eine Minijobberin, denn Mama und Papa geht es um die Zukunft der eigenen Kinder. Es gibt andererseits ganze Bevölkerungsgruppen, Millionen von Menschen, in denen dieser Satz nicht wahr wäre. Damit muss man sich auseinandersetzen.
- Die politischen Lager müssten sich umorientieren. Man denke nur daran, dass die deutsche Sozialdemokratie in ihren Anfängen noch Arbeiterbibliotheken gegründet hat, um durch Lektüre und Lernen einen Zugewinn an Bildung zu ermöglichen – hundert Jahre später haben ihre Vertreter Wege gefunden, auch ganz ohne Berufsabschluss ein erkleckliches Auskommen im Staatswesen zu erhalten.
- Lehrkräfte bräuchten eine ganz neue Autorität, aber auch die zupackende Bereitschaft, Erziehungsaufgaben soweit zu übernehmen wie sie nötig sind, um einen geordneten, ruhigen und effizienten Unterrichtsablauf sicherzustellen.
- Sie müssten außerdem das Recht verlieren, Kinder wegen Legasthenie und Dyskalkulie mittels psychiatrischer Gutachten nachmittags zur Therapie zu schicken. Stattdessen sollten sie auf Basis fachlich fundierter Förderdiagnostik solche Lernrückstände primär verhindern und, wo vorhanden, im eigenen Hause beseitigen. Und zwar mit den ihnen eigenen Mitteln, nämlich der erfolgreichen Didaktik, aus der die diesbezüglichen „Therapien“ bestehen.
- Eltern dürften nicht mehr damit durchkommen, ihrem Kind Zettel mit der Botschaft „Diese Hausaufgabe war für Annabell-Leonie zu langweilig, deswegen hat sie sie nicht gemacht.“ zuzustecken, und müssten Kindern das Aushalten von Frustrationen beibringen, anstatt sie ihnen zu ersparen
Kurz, kauft Taschenrechner, denn eine Änderung ist wenig wahrscheinlich.