Walter & Feuerlein 1: „Wir mussten uns auf unsere Sachkenntnis verlassen“ – Ein halbes Jahrhundert als Schulbuchautoren
Harald Walter und Rainer Feuerlein sind Rekordmeister, und Millionen Menschen haben davon nachhaltig profitiert – doch niemand erkennt die beiden Mittachziger auf der Straße und fragt nach Autogrammen. Was für einen Rekord sie halten? Sie waren fast ein halbes Jahrhundert lang die Autoren der Mathebücher für bayerische Gymnasien. Mit ihren Büchern haben Millionen von Schülern erfolgreich Mathematik auf hohem Niveau gelernt. Wir sprachen mit ihnen über ihre Erfahrungen und ihre Sicht auf die Veränderungen im Mathematikunterricht-
Praxis Förderdiagnostik: Wie lange waren Sie für Mathematikbücher des Bayerischen Schulbuchverlags verantwortlich?
Harald Walter: Im Herbst 1966 wurde ich zu einer Besprechung mit Autoren der Mathematik-Reihe vom Bayerischen Schulbuch-Verlag (bsv) eingeladen. Es war allgemein bekannt, dass das Bayerische Kultusministerium beabsichtigte, für alle Fächer neue Lehrpläne herauszugeben. Die Schulbuchverlage mussten sich darauf vorbereiten. So begann meine Tätigkeit als Autor. Sie endete etwa im Jahr 2010, im Jahr 2018 erhielt ich letztmals ein dann bereits sehr geringes Autorenhonorar.
Das Wort „verantwortlich“ beschreibt die Tätigkeit eines Autors nicht zutreffend, denn mit der Unterzeichnung eines Autorenvertrags verpflichtet man sich nur dazu, zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Manuskript beim Verlag abzuliefern. Auf alles, was danach geschieht, hat man als Autor fast keinen Einfluss mehr.
Rainer Feuerlein: Der bsv wurde nach 1945 von der bayerischen Regierung gegründet, um den Mangel an Schulbüchern nach dem 2. Weltkrieg zu beenden. Die ersten Bücher haben über ganz Bayern verteilte, qualifizierte Lehrkräfte erstellt. Damals sind sehr gute Bücher entstanden.
Praxis Förderdiagnostik: Wie wurden Sie für diese Aufgabe ausgewählt? Erhielten Sie eine besondere Ausbildung oder Weiterbildung dafür?
Harald Walter: Ich war noch im Referendariat, als ich von Dr. Titze das Angebot bekam, ihm beim Verfassen einer neuen Schulbuchreihe zu assistieren. Die besondere Herausforderung bestand darin, die neu in Mode gekommene Mengenlehre als Grundlage für einen ansonsten weitgehend gleich gebliebenen Wissenskanon ins Buch aufzunehmen. Wir mussten uns bemühen, bei allen Themen die Sprache der Mengenlehre zu verwenden. Dies entsprach den Anforderungen des Lehrplans und auf ein eigenständiges Kapitel „Mengenlehre“ konnte verzichtet werden. Darin spiegelt sich die damalige und auch heutige Situation an den Hochschulen wider: In keinem Teilgebiet der Mathematik kann auf die Grundbegriffe der Mengenlehre verzichtet werden, aber es werden kaum Vorlesungen mit dem Titel „Mengenlehre“ angeboten.
Ich habe keine besondere Ausbildung für das Verfassen von Schulbüchern erhalten. Ich war lediglich ein Referendar mit einer guten Staatsexamensnote und konnte meinen Seminarlehrer auch mit einer gelungenen Arbeit im Rahmen des 2. Staatsexamens überzeugen.
Praxis Förderdiagnostik: Herr Feuerlein, auch Sie haben vom KM keine besondere Unterstützung oder Ausbildung als Schulbuchautor erhalten, sondern kamen schlicht aufgrund Ihres sehr guten Rufes als Mathelehrer ins Team?
Rainer Feuerlein: Ich war noch ein ganz junger Lehrer, als ich von Dr. Titze das Angebot bekam, ihm beim Verfassen einer neuen Schulbuchreihe zu assistieren. Harald Walter und Dr. Titze konnten die gesamte Arbeitslast nicht alleine bewältigen und brauchten mich als dritten Mann. In den Jahren davor war Dr. Titze alleine für die Lehrbuchreihe zuständig gewesen. Das war jetzt nicht mehr machbar, da wir jüngeren Lehrer mit der damals neuen Mengenlehre besser vertraut waren.
Praxis Förderdiagnostik: Wie muss man sich den Entstehungsprozess eines Schulbuchs vorstellen?
Harald Walter: Wir konnten als Grundlage auf die früheren Ausgaben der entsprechenden Algebrabücher von Dr. Titze zurückgreifen. Die grobe Stoffreihenfolge war durch diese Bücher und durch den Lehrplan bereits vorgegeben. Mir fiel es zu, die neue Thematik „Mengenlehre“ zu integrieren. Viele der Erklärungstexte zu Beginn jedes Kapitels habe daher ich verfasst. Dr. Titze hat die folgenden Aufgaben konzipiert und angepasst, weitere Aufgaben haben wir dann gemeinsam erstellt. Zu dritt haben wir dann viele Jahrzehnte lang die Algebrabücher des bsv-Verlags verfasst. Nach dem Tod von Dr. Titze waren Rainer Feuerlein und ich gemeinsam dafür zuständig.
Die Lehrpläne wurden immer enger
Rainer Feuerlein: Der Lehrplan gibt die Inhalte, den Stoff vor. Dazu entwickelt der Autor ein Manuskript, das vom Verlag beim Kultusministerium eingereicht wird. Ein Gutachter (i.d.R. ein erfahrener Lehrer) liest das Manuskript und prüft, ob das Buch lehrplankonform ist und ob die Lerninhalte methodisch gut aufbereitet sind. Er macht Verbesserungsvorschläge, die man soweit nötig einarbeitet und dann erneut vorlegt.
Anders als heute waren die Lehrpläne in den 70er und 80er Jahren sehr kurz. Man hatte als Autor große Freiheiten. Schulbücher waren damals auch nicht auf einzelne Bundesländer beschränkt. Unser Algebra-Buch beispielsweise wurde in ganz Deutschland sowie in der Schweiz verkauft.
Im Lauf der Zeit wurden die Lehrpläne immer enger, nach und nach waren nur noch Bücher für einzelne Bundesländer möglich. Es gab sogar schon Curricula, die kleinschrittig jede einzelne Unterrichtsstunde vorgaben. In Bayern lag uns ein „curricularer Lehrplan“ vor, in dem Happen von 4-5 Stunden vorgegeben waren.
Praxis Förderdiagnostik: Wenn man einen neuen Intelligenztest erstellt, gibt es zunächst eine große Menge von Aufgaben, die mit vielen Kindern durchgeführt werden. Dann wird ausgewertet, welche Aufgaben am aussagekräftigsten und verständlichsten waren, und nur die kommen am Ende in den fertigen Test.
Gibt es ein ähnliches Vorgehen bei der Schulbucherstellung? Werden verschiedene Erklärungsansätze mit den Schülern getestet und am Ende der beste übernommen?
Rainer Feuerlein: Nein, ein solches Vorgehen ist nicht üblich, aber ich habe das teils aus Eigeninitiative versucht und konnte außerdem Erfahrungen aus dem Physikunterricht nutzen. Ich war nämlich am Hardenberg-Gymnasium für den programmierten Unterricht in Physik zuständig (Anm.: Der „programmierte Unterricht“ war in den 70er Jahren schwer in Mode. Er stellte im Prinzip eine Vorläuferform von Lernapps dar und zwar in Form kleiner Bücher. In denen musste man je nach richtiger oder falscher Antwort auf einer anderen Seite weiter üben. So entstand ein individueller Pfad durch das Übungsthema.). Ich habe die kleinen Büchlein zum programmierten Unterricht getestet und optimiert. Dadurch habe ich sehr viel darüber gelernt, wie Schüler denken.
Ich hatte zusätzlich den Vorteil, eine Springerklasse zu unterrichten, deren Schüler die Mittelstufe um ein Jahr verkürzten. Im Unterricht mit diesen sehr engagierten Schülern hatte ich die Freiheit, den Stoff eines neuen Lehrplans frei aufzubereiten. So konnte ich die Methodik und die neue Aufbereitung der Lerninhalte erproben.
Harald Walter: Es gab keine universitäre Versuchsreihe mit den Rechenaufgaben im Buch, keine Erprobungsstudie oder ähnliches. Wir mussten uns auf unsere Erfahrung und Sachkenntnis verlassen und haben die Aufgaben so ausgewählt, wie wir es auch für unsere persönliche Unterrichtsvorbereitung gemacht hätten.
Praxis Förderdiagnostik: Wenn man heutzutage ein Mathebuch aufschlägt, sind 10-20 Autoren für einen einzelnen Band aufgelistet. Ich glaube, dass Ihre Bücher auch deshalb so erfolgreich und gut waren, weil man einfach viel stringenter arbeiten kann, wenn man alleine oder zu zweit, zu dritt ist. Die Bücher haben dadurch eine viel klarere Struktur und einen erkennbaren roten Faden. Außerdem werden viele Bücher heute von Uni-Mitarbeitern verfasst, die kaum eigene Unterrichtserfahrung besitzen, während Sie aus der Praxis und für die Praxis geschrieben haben.
Rainer Feuerlein: Dr. Titze legte besonderen Wert darauf, die Schwierigkeit von Aufgaben langsam, aber stetig und in logischer Reihenfolge zu steigern, bzw. in einer neuen Aufgabengruppe einen anderen Aspekt zu beleuchten. Ihm war es auch wichtig, viele Aufgaben anzubieten, damit die Schüler genug Gelegenheit zum Üben hatten; sie sollten Routine gewinnen. Das merkt man den Büchern an. Weil sich das auch für meine Schüler bewährt hat, haben wir dieses Vorgehen über die Jahre beibehalten.