Wie misst man die Lesegeschwindigkeit (WPM) sinnvoll?
Wie können Lehrer oder Eltern ohne großen Aufwand die Lesegeschwindigkeit selbst messen? Sie brauchen dazu keine umfangreiche Ausstattung, sondern nur folgende Arbeitsmittel:
- einen Stift
- eine Stoppuhr (Küchenwecker, Handy…) oder Sanduhr für 1 Minute
- einen Text möglichst ohne Bilder, der dem Kind gefällt und relativ einfach erscheint
- ein Blatt Papier oder, noch besser, eine Kopie des Textes
- optional: eine Videokamera (evt. Ihr Handy)
Im Prinzip tun Sie folgendes: Sie zählen, wieviele Wörter das Kind pro Minute (richtig) lesen kann. Wieviele das sind, sagt Ihnen einiges darüber, wie gut oder schlecht das Kind im Vergleich zu den Altersgenossen liest, auf welcher Stufe der Leseentwicklung es steht und wie gut es in der Lage ist, aus Texten Informationen zu entnehmen.
Im Detail gehen Sie folgendermaßen vor:
Schaffen Sie als erstes eine entspannte, ruhige und gut beleuchtete Lesesituation. Erklären Sie dem Kind, dass Sie mit ihm einmal herausfinden möchten, wie schnell es denn schon lesen kann. Sehen Sie das Ganze sportlich und vermitteln Sie das auch so. Es geht darum, die Basis für das weitere Training festzustellen. Sie wollen herausfinden, womit Sie in der weiteren Förderung rechnen dürfen und rechnen müssen.
(Wenn Sie selbst sich die Analyse des Lesens nicht zutrauen, können Sie hier unkompliziert unseren professionellen Service buchen und eine Einschätzung samt persönlichem Förderplan erhalten.)
Vor Ihnen liegt entweder das leere Blatt oder die Kopie des Textes sowie Ihr Bleistift und die Stoppuhr. Falls vorhanden, läuft die Videokamera. (Auch viele Foto-Digitalkameras haben eine Videofunktion, die absolut ausreicht. Es geht nur darum, hinterher noch Details des Lesens auswerten zu können und zu analysieren, wohin das Kind wann schaut. Man bemerkt vieles Bemerkenswerte erst beim Ansehen des Videos.)
Erklären Sie dem Kind, dass es sobald Sie „Los!“ sagen, den Text vorlesen soll. Es soll so schnell lesen, wie es kann, ohne vor lauter Eile zu viele Fehler zu machen. Das Kind soll unbeschwert sein, aber anstrengungsbereit.
Wenn Sie „Auf die Plätze, fertig, los!“ gesagt haben, starten Sie die Stoppuhr und das Kind fängt an zu lesen.
Wenn Sie keine Kopie des Textes haben, notieren Sie auf dem leeren Blatt eine Strichliste. Dazu machen Sie für jedes richtig gelesene Wort einen Strich und für jedes falsch gelesene Wort einen Punkt. (Das dient dazu, später zu wissen, ob das Kind zwar viele Wörter gelesen hat, aber viele davon falsch.) Idealerweise notieren Sie sich jeden Lesefehler genauso, wie das Kind ihn gelesen hat. Hat es mehrere Anläufe für ein Wort gebraucht, können Sie sich auch die notieren. Entweder zählen Sie jeden Anlauf als einen Fehler, oder Sie werten nur das richtig gelesene Wort. Hauptsache, Sie machen das konsistent – entscheiden Sie sich also vorab für ein Vorgehen. Sie ahnen schon, wie hilfreich die Videokamera sein wird…
Wenn Sie eine Kopie des Textes haben, können Sie jedes richtig gelesene Wort so stehen lassen. Kreisen Sie nur die falsch gelesenen ein und notieren Sie die Fehler genauer.
Wichtig: Lassen Sie die Stoppuhr nicht für eine Minute laufen, sondern für drei. Denn es kann leicht passieren, dass ausgerechnet in dem von Ihnen ausgewählten Abschnitt ein besonders schwieriges Wort vorkommt, welches das Kind für 10 Sekunden aus dem Konzept bringt. Es würde daher das Lesetempo stark verzerren, wenn Sie nur eine Minute lang messen.
Markieren Sie das Ende jeder Minute mit einem dicken Strich in Ihrer Kopie. Falls Sie eine Strichliste führen, fangen Sie für jede Minute eine neue Zeile an.
Nach Ablauf der drei Minuten sagen Sie „Stop!“ und bedanken sich freundlich bei dem Kind, dass es für Sie gelesen hat. Wieweit Sie das Kind in die Auswertung einbeziehen, ob Sie das sofort mit ihm besprechen oder später etc., ist eine pädagogische Entscheidung, die wir hier jetzt nicht weiter erörtern. Was Sie mit dem Ergebnis anfangen, erfahren Sie im nächsten Beitrag dieses Specials.
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Dieser Artikel ist Teil einer Reihe. Alle Teile des Themenblocks „Lesegeschwindigkeit“ finden Sie, wenn Sie dieses Schlagwort im Suchfeld eingeben, oder über folgende Liste:
Teil 1: Warum sollte man 150 Wörter pro Minute lesen können?
Teil 2: Wie schnell sollte ein Kind in welchem Schuljahr lesen?
Teil 3: Flüssig lesen kommt von selbst – oder?
Teil 4: Was passiert ohne Leseförderung?
Teil 5: Wie misst man die Lesegeschwindigkeit (WPM) sinnvoll?
Teil 6: Was sagt ein Lesegeschwindigkeits-Test aus?
Teil 7: Warum liest mein Kind zu langsam?
Teil 8: Wie lesen Leseanfänger?
Gute Kinderbücher zum Üben und Erfreuen finden Sie auf meiner Kinderbibliotheksseite.
Sehr geehrte Frau Stiehler,
mit viel Genugtuung habe ich Ihre Artikel zur Entwicklung der Lesegeschwidnigkeit gelesen und stimme vor dem Hintergund praktischer Erfahrungen weitgehend zu.
Bei der von Ihnen vorgeschlagenen Methode zur Messung der Lesegeschwindigkeit sehe ich aber praktische Grenzen: Wenn ich 3 Minuten lesen lasse und – bei ausreichender Routie – noch einmal 3 Minuten Vor-/Nachbereitungszeit dazurechne, komme ich bei 25 Kindern in meiner Lerngruppe auf einen Zeitaufwand von ca. 2,5 Stunden. Wenn ich nicht doppelt besetzt bin oder die Kinder ausreichend selbstständig sind, um in dieser Zeit konzentriert an anderen Übungen zu arbeiten, ist das rein organisatorisch nicht zu bewerkstelligen.
Nötig wäre also ein Verfahren, dass zeiteffizienter einsetzbar ist, vor allem, wenn ich Kolleg*innen nicht nur von der Notwendigkeit sondern auch von der Machbarkeit überzeugen will.
Das einzige mir bekannte Verfahren ist der „Stoperwörter-Lesetest“, der allerdings deutlich niedrigere WPM-Ergebnisse liefert, weil hier gleichzeitig die Sinnentnahme gefordert ist. Kennen Sie dieses Verfahren und was halten Sie ggf. davon? Sehen Sie eine andere Methode, die den oben beschriebenen Erfordernissen Rechnung trägt?
Mit freundlichen Grüßen,
Moritz Uibel
Sehr geehrter Herr Uibel, herzlichen Dank für Ihr ausführliches Feedback. Haben Sie die Messung denn schon einmal ausprobiert? Nach unserer Erfahrung genügt ein Text, bei dem man sich kumulativ an jedem Zeilenrand notiert, wieviele Wörter es bis hierhin sind. Dann kann man für jeden Schüler markieren, wie weit er in jeder Minute gekommen ist und sogar Lesefehler notieren. Wir erproben gerade mit Lehrkräften und Kinderärzten eine entsprechende Vorlage, die zusätzlich noch zu 99,5% aus Grundwortschatzwörtern besteht, und haben damit sehr gute Erfolge. Die Lehrkräfte brauchen pro Kind wirklich nur die 3 Minuten, plus ein wenig Zeit für den Wechsel zum nächsten Kind. Die Auswertung ist zu Hause schnell erledigt und die Kinder und Eltern erhalten den Wert samt Einordnung als knappes schriftliches Feedback (dafür gibt es ebenfalls ein zeitsparendes Formular). Nächstes Jahr wird dieser Test nach Abschluss der Erprobung hier im Shop erhältlich sein, anwendbar ab der 1. Klasse.
Wie kommen Sie den auf die zweiten 3 Minuten, von denen Sie sprechen? Das ist mir nicht ganz klar. Das verdoppelt dann tatsächlich die Durchführungszeit. Mit unserer Version kommen die Lehrkräfte in 2 Unterrichtsstunden mit der gesamten Klasse durch.
Wir freuen uns, mehr von Ihren praktischen Erfahrungen zu hören!
Herzliche Grüße,
Miriam Stiehler
Sehr geehrte Frau Stiehler,
inzwischen habe ich die Methode bei zwei Lerngruppen mehrfach angewendet und kann Ihre Einschätzung bestätigen. Das Verfahren läuft recht unkompliziert, die Kinder strengen sich gerne an und ich erhalte vor allem belastbare Ergebnisse. Die Kinder interessiert vor allem immer, wie sie sich verbessert haben – und das motivierende ist ja, das immer eine Verbesserung feststellbar ist. Den StolLe benutze ich inzwischen gar nicht mehr, denn im Gegensatz zu ihm liefert mir der oben beschriebene Test auch qualitative Erkenntnisse, z.B. ob noch erlesen wird, ob der Finger mitgeführt wird, ob mit Betonung vorgelesen wird, ob Fehler in einem knappen Zeitfenster selbst korrigiert werden usw.
Bei der Textauswahl habe ich übrigens den Lesbarkeitsindex nach (LIX, zu finden unter https://www.psychometrica.de/lix.html) zu Rate gezogen, um altersgerechte Texte zu finden. Da wollte ich mich nicht auf meine „Erfahrung“ verlassen.
Meine Klassen trainieren das Lesen dann auf unterschiedlichen Niveaustufen im Tandemlesen. Die schwächsten Kinder starten auf der Silbenebene, dann gehts weiter zur Wort- und schließlich zur Textebene. Die Ergebnisse sind immer wieder überzeugend.
Mit freundlichen Grüßen,
Moritz Uibel
Sehr geehrter Herr Uibel,
ganz herzlichen Dank für Ihr ausführliches Feedback! Ich freue mich, dass Ihre Schüler von unseren Tipps profitieren können, und wünsche Ihnen und den Kindern weiterhin viel Erfolg und Freude im Lesetraining! Über den LIX sollten wir mal einen eigenen Artikel verfassen, glaube ich, es ist ein interessantes kleines Tool.
Mit herzlichen Grüßen,
Miriam Stiehler