„Was kann ich zum Buchstaben M machen, um alle Sinne anzusprechen?“ – immer wieder sehen wir in Lehrerforen solche Fragen. Dahinter steht der Glaube, Kinder würden besser lernen, wenn man im Unterricht alle Sinne anspräche, also Aktivitäten stattfinden ließe, bei denen die Schüler zusätzlich zum Kern des Themas etwas riechen, schmecken, sich bewegen, tasten… Einige Lehrkräfte reagieren erstaunlich empfindlich, wenn man an diesen Glaubenssatz rührt. Wir wollen heute zeigen, warum diese Auffassung ein Irrglaube ist, der besseren Unterricht verhindert. Sicherlich meinen es Lehrkräfte gut, die so arbeiten, und irgendjemand hat ihnen auf überzeugende Weise vermittelt, der o.g. Lehrsatz sei psychologisch oder didaktisch fundiert und sie würden fachwissenschaftliche Erkenntnisse umsetzen. Jeder, der wirklich nach gutem Unterricht strebt, wird jedoch aufhorchen, wenn wir sagen: „Die Sinne anzusprechen“ mag gut gemeint sein, aber es ist in der oben beschriebenen Form falsch. Dieser Glaube ist ein jahrzehnte-, ja sogar jahrhundertealtes Missverständnis.

Einmal unklar ausgedrückt, 400 Jahre lang Verwirrung gestiftet

Jahrhundertealt deshalb, weil bereits frühe Didaktiker wie Comenius und Pestalozzi manches Unausgegorene zu der Frage geschrieben haben, wie ein Kind vom Gegenstand, den es wahrnimmt, zu Erkenntnissen über diesen Gegenstand gelangt. Comenius hat im 17. Jahrhundert behauptet, ein Lerngegenstand sollte mit einem oder möglichst sogar allen Sinnen erfasst werden. Und dieser Satz war es, der bis heute Lehrer glauben lässt, tasten, bewegen, sehen, riechen, schmecken etc. sei per se hilfreich für das Lernen. In der früheren „tabula rasa“-Lernpsychologie glaubte man, ähnlich wie ein Stempel oder fotografisches Negativ präge sich auf der „leeren Tafel“ des menschlichen Geistes das Bild dessen, was man sieht, direkt und ohne weitere Anstrengung ein. Auf dieser Basis entstand der sogenannte „Sensualismus“, eine bis heute einflussreiche psychologische Richtung, die sehr stark die Sinneseindrücke betont und nicht die konstruktiven Leistungen des Verstandes.

Machen Sie hier und jetzt den Selbstversuch

Sie können aber mit einem einfachen Versuch selbst widerlegen, dass der Sinneseindruck das Entscheidende für die klare gedankliche Vorstellung eines Gegenstands, für die Erkenntnis ist. Machen Sie folgendes kleines Experiment: Schauen Sie jetzt keinesfalls auf Ihre Armbanduhr (oder Küchen- oder Klassenzimmeruhr), aber denken Sie an sie. Das ist eine Uhr, deren Sinneseindruck Sie schon hunderte Male wahrgenommen haben, sogar mit zusätzlichen emotionalen Komponenten (wenn Sie aufgeregt auf einen bestimmten Termin warteten etc.). Zeichnen Sie die Uhr auf ein Blatt Papier oder stellen Sie sie sich lebhaft vor. Welche Form und Farbe haben die Zeiger? Welche Farbe hat das Zifferblatt? Trägt es eine Aufschrift, welche und wo? Hat es arabische oder römische Ziffern? Probieren Sie das gleiche ruhig mit einigen Kollegen aus.

Sie werden feststellen, dass die allerwenigsten Menschen die Fragen genau richtig beantworten können. Denn: Der Sinneseindruck allein ist nicht das Entscheidende, um etwas über einen Gegenstand zu lernen. Er ist zweifellos notwendig – wir müssen die Sache selbst, oder ein Bild von ihr, sehen, um über sie zu lernen, oder wir müssen zumindest von ihr erzählt bekommen und uns eine Vorstellung von ihr auf Basis vorhandenen anderen Wissens bilden können. Um es mit dem Erkenntnistheoretiker Immanuel Kant zu sagen: Wir benötigen die Wahrnehmung, um auf unsere Wahrnehmungsmaterialien den Verstand anwenden zu können. Die Wahrnehmung, der Sinneseindruck ist notwendig – aber nicht hinreichend! Selbst ein Sinneseindruck, den man hunderte Male erlebt hat, bewirkt kein Abspeichern aller darin enthaltenen Informationen. Warum nicht? Weil es um die Fragen geht, die wir uns stellen. Wenn Sie auf die Uhr sehen, wollen Sie wissen, wie spät es ist – und nicht, welche Farbe ihre Bauteile haben. Wir erkennen das, worauf wir hinauswollen. Sinneseindrücke, denen keine zum Thema passende Fragestellung zugrundeliegt, sind deshalb für den Unterricht reine Zeitverschwendung: Wir lernen nichts dabei, weil sie uns nicht dazu dienen, eine bestimmte Frage zu beantworten.

Leider vergisst mancher Didaktiker, dass nicht der Sinneseindruck entscheidend für die Erkenntnis ist sondern die Fragen, die wir uns stellen. Lernen bedeutet, sich die richtigen Fragen zu stellen: Die Beschaffenheit einer Sache beschreiben, auf einfachere Formen reduzieren, mit bekannten Formen und der Beschaffenheit anderer Sachen vergleichen; zu verstehen, wie etwas entstanden ist; zu verstehen, aus welchen Teilen etwas besteht und nach welchen Gesetzmäßigkeiten diese zusammenwirken; das Allgemeine und Charakteristische einer Sache vom Akzidentiellen trennen usw. 

Eine perfekte Unterrichtsstunde für alle Sinne – oder?

Wenn jemand nun seinen Unterricht zum Thema Uhr nach sensualistischen Prinzipien plant, wird er z.B.

  • viele verschiedene Uhren mitbringen und sie die Schüler betasten lassen
  • die Schläge und das Klingeln verschiedener Wecker, Kirchturmuhren, Kuckucksuhren… anhören lassen
  • Kleine Uhren aus Lebkuchenteig oder Keksen backen, Zifferblätter mit Zuckerschrift aufmalen und die Schüler sie essen lassen
  • Ein Ziffernblatt aus Malerkrepp auf den Boden des Klassenzimmers kleben und die Schüler als Zeiger darauf herumlaufen oder sich wälzen lassen, uvm. 

Zweifellos wären bei diesen Aktivitäten verschiedene Sinne beteiligt. Aber, wie Hans Aebli es ausdrückt: „in der Sprache der Sinnesempfindungen“ kann man gar nicht das ausdrücken, was es über eine Uhr zu wissen gibt. Wichtig ist, was wir uns fragen, was wir denken, und nicht, was wir fühlen. Wenn das, was wir fühlen, nicht von klaren Fragestellungen geleitet wird, verhilft es uns nicht zu einer Erkenntnis. „Indem ich das sensorielle Medium beschreibe, das mir eine Erfahrung  vermittelt, erfasse ich ihr Wesen und ihre Hauptzüge nicht“ (Aebli 1968, 125). Das heißt: Wesentlich an einer Uhr ist nicht ihre Farbe, ihr Material oder ihr Klang. Wesentlich ist, dass sie die Zeit angibt, und daher sind wesentliche Themen die verschiedene Bedeutung der Ziffern für Stunden- und Minutenzeiger, das verschachtelte Verhältnis von Stunden und Minuten, und die sprachlichen Schwierigkeiten wie „halb sechs“, „viertel vor“, „viertel nach“ u.ä.. Um zu verstehen, wie eine Uhr technisch funktioniert, muss man das Zusammenspiel ihrer Bauteile verstehen, z.B. die verschiedene Übersetzung der Zahnräder, die Stunden- und Minutenzeiger antreiben. 

Viele verschiedene Uhren in den Unterricht mitzubringen macht nur Sinn im Rahmen der Fragestellung, man solle das beschreiben, was ihnen allen gemeinsam ist: Das Ziffernblatt, die Zeiger, das Uhrwerk. Die Bandbreite sinnvoller Alternativen, z.B. ob ein zusätzlicher Sekundenzeiger vorhanden ist oder ob man römische, arabische oder gar keine Ziffern verwendet, kann man bei einem solchen Vergleich ebenfalls besprechen. 

Klänge verschiedener Uhren anzuhören bringt wenig Erkenntnisgewinn; mehr brächte es, dem leisen Ticken zuzuhören und zu verstehen, dass jedes „TickTack“ der Bewegung eines Zahnrades entspricht. Auch könnte man lernen, dass Kirchturmuhren mit einer Glocke die jeweils letzte volle Stunde anzeigen und mit weiteren 1-3 Schlägen die seitdem vergangenen Viertelstunden. Mehrere Klänge alleine aber, ohne dieses Verständnis, tragen zum Lernprozess nichts bei.

Kekse zu backen und zu essen mag den Schülern Spaß machen; über die Uhr würden sie allenfalls dann etwas lernen, wenn sie zumindest selbst das Zifferblatt aus Zuckerguss darauf malen müssten oder eine ganz bestimmte Uhrzeit.

Gefüllte Unterrichtszeit ist nicht immer optimal genutzte Zeit

Und spätestens hier stellt sich nun die Frage, wie sinnvoll die viele Unterrichtszeit, die so etwas in Anspruch nimmt, damit eingesetzt ist. Freilich möchte man gelegentlich eine besonders „nette“, vergnügliche Aktivität für die Schüler einplanen, ein Highlight. Aber grundsätzlich wird man sehr viel Zeit der Schüler verschwenden, wenn einem nicht klar ist, dass das Entscheidende der Denkprozess ist und nicht die sinnliche Erfassung. Und, was noch schwerer wiegt: Wenn man sich nicht darauf versteht, mittels passender Fragestellungen die entscheidenen Operationen und Zusammenhänge befreit von ablenkenden Sinneseindrücken herauszuarbeiten, sind die Schüler weitgehend auf sich allein gestellt. Die intelligenteren werden trotz der ablenkenden Materialien und Aktivitäten einige Zusammenhänge erfassen, aber nicht so gründlich und klar wie sie könnten; und die schwächeren Schüler werden wesentliche Zusammenhänge gar nicht hinreichend klar erfassen. Es wird bei so starkem Materialeinsatz auch nicht genug Zeit in Vorbereitung und Durchführung übrig sein, um Förderdiagnostik einzuplanen, um den Lernprozess aller Schüler durch gezielte Fragestellungen zu verfolgen und Irrtümer zu korrigieren. Last but not least ist die Gefahr groß, dass eine sensualistisch geprägte Lehrkraft weniger gut versteht, wie nötig das ist und wie man es anstellt, denn es liegt nicht in ihrem primären Fokus – Resultat ist dann ein schlechterer Unterricht mit weniger Erkenntnis pro Stunde und weniger klarer individueller Einschätzung der Schüler. In Fächern wie Heimat- und Sachkunde gelingt meistens noch ein sachbezogener Einsatz von Sinneseindrücken, aber was an Grund- und Förderschulen teilweise in Deutsch und Mathematik an künstlich aufgepropften und ablenkenden Tätigkeiten stattfindet, nur, damit „alle Sinne angesprochen“ werden, ist aus didaktischer Sicht mehr als bedenklich. Wenn Referendare zusätzlich noch den Eindruck gewinnen, nur mit entsprechenden Stunden könnten Sie zu guten Noten und Bewertungen gelangen, ist das im Hinblick auf eine fundierte Ausbildung sehr fragwürdig.

Lernen ist geistiges Handeln, nicht Hantieren

Lernen ist nun einmal kein fotografischer Vorgang, bei dem sich das Abbild einer Uhr schon beim Anfassen oder Vorzeigen in den Geist der Schüler einbrennt, und ein Abbild wäre nicht das selbe wie ein verstandenes geistiges Konzept eines Gegenstands. Lernen funktioniert auch nicht so, dass das Anregen anderer Sinne ohne Verbindung zur eigentlichen Fragestellung den Erkenntnisprozess als eine Art Katalysator beschleunigen oder verstärken könnte. 

Lernen ist, das wissen wir spätestens seit Piaget, ein aktives geistiges Nachkonstruieren. Es geht nicht um das Hantieren, also das rein äußerliche in-Bewegung-sein oder den Einsatz der Sinne, sondern um das Handeln im Sinne des bewussten und begrifflich klaren Ausführens von Operationen. „Wesentlich ist dabei, was ich tue und was am Gegenstand geschieht. Die Regel, daß ein Gegenstand mit allen Sinnen erfaßt werden sollte, sagt einfach zu wenig; entscheidend ist nicht das sinnliche Kontaktmedium, sondern die Handlung und die Beobachtung ihrer Auswirkungen am Gegenstand.“ 

Es sind immer Fragestellungen aus dem Verstand, die die Wahrnehmung als Mittel zum Zweck lenken müssen. Man kann eine Uhr stundenlang ohne Sinn und Verstand, ohne Verständnis anstarren – man kann aber auch mit einer gezielten Fragestellung herangehen und beobachten, wie der Minutenzeiger immer einen Strich weiter wandert, wenn der Sekundenzeiger an der 12 angelangt ist. Entscheidend ist die Frage, die Anwendung einer oder mehrerer Verstandeskategorien; mit ihr lenken wir den sinnvollen Einsatz der Wahrnehmung.

So kann ein Schüler zwar einem Uhrmacher bei der Arbeit zusehen und auf seine Mimik, seine Kleidung achten oder die Anekdoten, die dieser erzählt. Der Schüler kann aber auch – und nur das bringt dann die relevante Erkenntnis – die Tätigkeit des Uhrmachers innerlich nachvollziehen. „Er muß sich mit ihm identifizieren, sich an seine Stelle denken, einmal in der Vorstellung selber tun, was der Betreffende zu tun im Begriffe ist. Nur auf diese Weise wird er die Handlung erfassen, die sich vor seinen Augen, in Wirklichkeit oder auf dem Bilde, abspielt.“ (Aebli 1968, 124). Oft wird solch ein intensives inneres Nachvollziehen von unwillkürlichen Bewegungen begleitet, man macht z.B. unwillkürlich eine Bewegung mit den Fingern, als würde man eine Uhr aufziehen, oder dreht beim Thema Auto an einem imaginären Lenkrad, wenn man erklären will, wie die Lenkung funktioniert. Auch hier darf man nicht denken, Bewegungsspiele könnten nun umgekehrt den Lerneffekt vergrößern – die Bewegungen sind lediglich die Folge eines lebhaften Mitdenkens und Verstehens, das nicht durch zusammenhanglose Bewegung, sondern nur durch gedankliches Handeln erreicht werden kann. An einer Modelluhr verschiedene Zeiten einzustellen und die Zeiger zu bewegen, kann also absolut sinnvoll sein – nicht, weil dabei der Körper und die Sinne verwendet werden (Wann werden sie das denn nicht? Es gibt kein Denken und Lernen ohne Beteiligung von Sinnen und Wahrnehmung!), sondern weil wir dabei denkend handeln, um die entscheidenden Zusammenhänge zu verstehen. 

Rollbrettfahren hilft nicht gegen Legasthenie

Eben weil es um diese nur mit Hilfe des Verstandes zu erfassenden Zusammenhänge geht, bleibt es auch wirkungslos, einzelne motorische Fähigkeiten zu trainieren oder inhaltlich unzusammenhängend die Sinne einzusetzen, um eine höhere Lernleistung zu verbessern. So ist es nachweislich wirkungslos für die Rechtschreibung, in der Ergotherapie Rollbrett zu fahren, Slalom zu laufen, zu balancieren etc. Man lernt dadurch besser Rollbrett zu fahren, Slalom zu laufen und zu balancieren – aber nicht besser Rechtschreiben. Das lernt man nur durch Rechtschreibunterricht und Übung. Erwin Breitenbach konnte dies schon in den 90er Jahren in einer breit angelegten Studie nachweisen, und es entspricht auch der Sachlogik der konstruktivistischen, an Operationen orientierten Didaktik, die dank Piaget und Aebli theoretisch fundiert und mit zahlreichen erfolgreichen Experimenten belegt ist.

Wie eine Lehrkraft gerade durch den zu Unrecht verpönten fragend-entwickelnden Unterricht die Schüler anregen kann, die  Sachzusammenhänge des jeweiligen Themas zu verstehen, davon handelt der folgende Artikel. Auch er beruht auf der Forschungsarbeit Hans Aeblis.

 

Literatur:

Aebli, Hans: Grundformen des Lehrens: Eine allgemeine Didaktik auf kognitionspsychologischer Grundlage; Klett, Stuttgart, 5/1961.