Das Leben sei ein Ponyhof! (Ursachen 4/4)
Mathematik ist als solches nicht „nützlich“, aber immer geistig anstrengend. Doch was nicht nützlich ist, wird in weiten Teilen der modernen Pädagogik nur geduldet, wenn es Spaß macht. Das steht ganz im Gegensatz zu der Haltung, die Harald Martenstein in seinem Gastbeitrag bei uns beschreibt: „Man hielt Bildung für einen Selbstzweck, für etwas Schönes, Erstrebenswertes, eine bewusstseinserweiternde Voraussetzung für ein gutes Leben, ob mit oder ohne Geld.“ (siehe hier) Diese Haltung gilt heute vielen Didaktikern als hoffnungslos altmodisch, und in der mehr oder weniger bewussten Abkehr von ihr wird auch der Mathematikunterricht umgekrempelt (wie so ziemlich jedes Kernfach).
Ohne langweilige Übung kein Lernerfolg
Im Erlernen von Mathematik gibt es aber eine Phase, die weder unmittelbar nützlich ist noch allen Spaß macht: Die notwendige Phase des Übens und Wiederholens. Dies gilt natürlich auch für andere Fächer. Wie wichtig diese Phase ist, hat zuletzt Hans Aebli in seinen Fachbüchern und Vorlesungen gezeigt. Er war der bedeutendste vernünftige deutschsprachige Didaktiker des 20. Jahrhunderts. Nach Aebli soll jeder Lehr-Lern-Prozess die folgenden Phasen aufweisen:
- Problemlösen
- Durcharbeiten
- Üben und Wiederholen
- Anwenden
Diese Phasen sind notwendig, um am Ende sowohl die sachgemäße Beherrschung des Themas sicherzustellen, als auch den Schüler durch Bildung freier und individuell stärker zu machen.
Die pädagogische Crux liegt im Üben und Wiederholen:
- Das Problemlösen soll das Interesse des Schülers am Thema wecken, da es vom konkreten, alltäglichen Problem ausgeht. Harald Walter und Rainer Feuerlein haben in unseren Interviews ausführlich erklärt, wie erfolgreich sie diesen Schritt stets an den Anfang eines neuen Themas gestellt haben.
- Das Durcharbeiten müsste jedem Menschen aus dem Alltag selbstverständlich bekannt sein. Das dachte zumindest Aebli, weil der gründliche und umsichtige Bürger zu seinem Menschenbild gehörte. Er meinte daher: Das Durcharbeiten „ist das Verhalten, das jeder Mensch vor einer wichtigen Arbeit oder einer wichtigen Auseinandersetzung spontan an den Tag legt: den Ablauf „nach allen Kanten“ zu durchdenken, alle möglichen Schwierigkeiten zu antizipieren und für jede eine Antwort bereit zu halten; mögliche Variationen des Ablaufs im Geiste durchzuspielen, so daß man von der „Tücke des Objekts“ (oder des Gegners) auf keinen Fall überrumpelt wird.“ (Aebli 1983, S. 320) Betrachtet man die aktuell vorherrschende Arbeitsethik vieler Schüler und Studenten, hat Aebli damals unterschätzt, wie sehr dieses Verhalten in einer zunehmend überindividualisierten und hedonistischen Gesellschaft abnehmen würde. Für Hans Aebli (Jahrgang 1923) war eine entsprechende Erziehung zum gründlichen, sorgfältigen Vorgehen selbstverständlich und normal. Jeder wünscht sich freilich auch heute ein solches Vorgehen von seinem Anwalt, Arzt, Handwerker oder Haushaltshelfer. Gedacht ist die Phase des Durcharbeitens jedenfalls so, dass hier „verschiedene Variationen des Vorgehens erwogen“ werden und „ihr mutmaßliches Ergebnis, der Aufwand und der Ertrag abgeschätzt“ wird (Aebli 1983, S. 320).
- Üben und Wiederholen. Das ist der potentiell langweilige Teil. Besonders gefährlich wird es, wenn das spontane Interesse aus der ersten Problemstellung schon beim etwas anstrengenderen Durcharbeiten abgeflaut ist. Das ist der Fall, wenn ein Schüler noch unreif ist. Mit Reife ist erstens gemeint, dass der Schüler über kurzfristige Interessen hinaus eine gewisse Tiefe an Wissen und Gelehrsamkeit erworben hat. Tieferes Verständnis macht ihm echte Freude, nicht nur oberflächlichen Spaß. Zweitens gehört dazu, dass er genug Selbstdisziplin besitzt, um zu Gunsten eines langfristigen Ziels (also z.B. zugunsten des tieferen Verständnisses) auf kurzfristige Befriedigung verzichten kann. Der Grundstein dafür wird bereits im Vorschulalter gelegt, wie die Forschungen von Walter Mischel („Marshmallowtest“) zeigen. Übungen bringen lediglich die kurzfristige Befriedigung des „richtig gemacht“, wenn sie denn gelingen. Dies genügt in der Regel nicht als Motivation über mehrere Unterrichtsstunden hinweg.
- Anwenden. Dies ist der Teil, der Schüler mit der o.g. Tiefe wirklich interessiert: Sie verstehen, dass sie ihren Zugang zur Welt durch die vorhergehenden drei Stufen erweitert haben. Sie können nun das erworbene Wissen auf neue Probleme anwenden, die der zunächst durchgearbeiteten Situation ähneln.
„Meisterschaft“ ist nur noch im Fußball von Belang
Dennoch erwarten wir die Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub und fleißigen Üben auf dem Weg zur Meisterschaft nur noch von Bundesligaspielern. Für den Rest der Gesellschaft und insbesondere für unsere Kinder scheint die Erfahrung, Meisterschaft auf irgendeinem Gebiet anzustreben, den Pädagogen völlig egal geworden zu sein. Dabei trägt diese Fähigkeit letztlich nicht nur zu einer gebildeteren Gesellschaft bei, sondern zur gesellschaftlichen Stabilität im Allgemeinen. Wie W. Mischel stichhaltig belegen kann, haben Menschen mit der Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub stabilere Beziehungen, werden seltener drogenabhängig, erleben weniger ungewollte Schwangerschaften, behalten ihren Arbeitsplatz zuverlässig und werden seltener kriminell. Bereits im Alter von 4-5 Jahren stellt die Fähigkeit, eine langweilige Routinearbeit trotz Ablenkungen zu Ende zu bringen, einen validen Prädikator für diese spätere Stabilität dar; d.h. sie sagt zuverlässig diese spätere Stabilität im Sozialleben voraus. Wenn wir auf solche Elemente des Unterrichts verzichten, nehmen wir Kindern nicht nur leicht zugängliche Erfolgserlebnisse und schaden nicht nur ihrer Sicherheit im Rechnen. Wir schaden der gesamten zukünftigen Generation.
Das Leben ist ein Ponyhof: Die infantilisierte Gesellschaft
Das, was hinter dieser Geringschätzung von Übung und der kurzatmigen, oberflächlichen Form der Erziehung steht, nennen moderne Philosophen und Kulturwissenschaftler die „Infantilisierung der Gesellschaft“. Sie hat einerseits diese spezielle Art, Unterricht zu verschlechtern, erst salonfähig gemacht. Andererseits ist Schule nunmal ein starker erzieherischer Faktor – in Zeiten von Ganztagsschulen mehr denn je -, so dass durch den entsprechend gestalteten Unterricht die nächste Generation noch stärker infantilisiert wird. Ein Teufelskreis?
Was bedeutet „Infantilisierung der Gesellschaft“? Infantil ist es zum Beispiel, kurzfristigen Bedürfnisaufschub zugunsten eines höheren Ziels nicht leisten zu können. Der Infantilität und somit der Unreife leisten Pädagogen Vorschub, wenn sie von vornherein darauf verzichten, dies Kindern zuzumuten. Und genau das geschieht beim Verzicht auf Durcharbeiten und Üben, Üben, Üben. Reife hingegen besteht darin, dies zu können; und dieses ganz wesentliche Element der Erziehung muss auch und gerade in der Schule stattfinden. Das ist die eine erzieherische Aufgabe, die Schule ihrem Wesen nach leisten kann.
Die momentane Entwicklung führt zu einer „selbstgewählten Teilentmündigung“ der jüngeren Generation (Konrad Ließmann) und ist eng mit dem Konsumverhalten verbunden, das ich in Teil 2 dieser Reihe als typisches Verhalten der überindividualisierten Gesellschaft beschrieben habe. Ließmann beobachtet Schüler und Studenten, die keine 45 Minuten Unterricht durchhalten ohne unbedingt etwas trinken zu müssen. Er sieht darin, sarkastisch gesprochen, „Nuckelflaschen in den Klassenzimmern, Seminarräumen und Hörsälen“ und konstatiert, wir seien „als Kultur in eine orale Phase geschlittert, wir bleiben, individualpsychologisch, in dieser stecken.“ Ein österreichischer Autor der Wiener Zeitung schreibt treffend: „Wir haben es hier mit einer Art von Wohlstandsverwahrlosung zu tun, ausgelöst vom kollektiven Bedürfnis nach Instant-Befriedigung und Schmerzvermeidung, gefördert von Unternehmen und Politikern, die daraus ihren Nutzen ziehen.“
Ich will nicht nach Berlin…
Es ist sicherlich kein Zufall, dass ausgerechnet Berlin im Zuge unserer Recherchen als typisches Beispiel für schlechten Mathematikunterricht aufgetaucht ist – und dass der Kulturwissenschaftler Alexander Kissler ausgerechnet Berlin als „das Muster einer infantilen Gesellschaft“ bezeichnet. In abgeschwächter Form gilt aber für ganz Deutschland, was die hochbezahlte Köller Komission zur Rettung der Berliner Bildung dort bereits über den Kindergarten befindet: Schon im Kindergarten dominiert die Haltung „Die Kinder entscheiden, was sie machen wollen“. Wir haben bereits im Zusammenhang mit der Handschrift und generellen Schulfähigkeit ausführlich darüber berichtet, dass diese pädagogische Auffassung Kindern in vielfältiger Weise schadet.
Gerade benachteiligten Kindern schadet es, bloß zu machen, was sie wollen
Die Komission, die das erschreckend niedrige Niveau Berliner Bildungseinrichtungen von der Krippe bis zur Oberstufe untersuchen sollte, kommt zu dem selben Schluss. Als ganz wesentliche Maßnahme empfiehlt sie Kindergärten in Berlin eine „Stärkung der Förderung in Sprache und Mathematik“ (S. 27, Abschlussbericht) und zwar dergestalt, dass anstelle „stark kindgelenkter Interaktionen“ mehr „vorstrukturierte Angebote“ stattfinden sollen (ebd.). Dadurch sollen „Nachteile von Kindern aus bildungsfernen Familien möglichst frühzeitig reduziert und der Übergang zur Grundschule erleichtert“ werden. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit – aber in Zeiten, in denen manche Erzieher solche „vorstrukturierten Angebote“ als „Gewalt“ betrachten, eben doch nicht.
Dabei ist eigentlich etwas ganz einfaches gemeint: Was im Expertenjargon „bereichsspezifische Förderung im Sinne eines ausbalancierten Ansatzes / Open Framework Approaches“ heißt, bedeutet in der Praxis: „So, liebe Kinder, setzt euch alle mal an den Tisch und nehmt diese Legosteine. Wer kann eine Reihe vom kleinsten zum größten Stein legen?“. Schrecklich, diese Gewalt im Kindergartenalltag.
Spielverderber!
Solche Empfehlungen sind gut gemeint und überfällig. Aber ich habe den Verdacht, dass ohne gezielte Aufklärung ideologisch irrenden oder schlicht unterqualifizierten Personals die beabsichtigte „verbindlich nutzbare Toolbox für pädagogische Anregungen und Einheiten in den Bereichen Sprache, Mathematik und Selbstregulation“ in der Ecke verstauben wird (ebd.).
Interessant ist hier das im Bericht mehrfach betonte Stichwort „Selbstregulation“, früher auch einmal Selbstbeherrschung, Geduld, Zuhörenkönnen, Frustrationstoleranz oder Stillsitzen genannt. Was auch immer „verbindlich nutzbar“ bedeuten mag (Ist das nun verbindlich? Oder nur potentiell, also wenn man Bock hat, nutzbar?) – aus Sicht der Experten fehlt es bereits im Kindergarten an den psychosozialen Voraussetzungen für Bildung. Als hätten diese Spielverderber aus der Komission damit noch nicht genug langweilige Beschränkungen in die schöne freie Kindheit gebracht, empfehlen sie darüber hinaus „individuelle Entwicklungspläne“, „regelmäßig stattfindende Entwicklungsgespräche in Abstimmung mit den Eltern“, „eine verbindliche und individualisierte Förder- und Bildungsplanung für jedes einzelne Kind“, „Wochenpläne“ sowie qualifizierte Fortbildungen.
Aber keine Sorge: Am Ende passiert eh nichts
Weil jedoch die entsprechenden „Kompetenzen und Qualifikationen … bei den frühpädagogischen Fachkräften mit der Ausbildung zur/zum Erzieher*in nicht erwartet werden können“, soll die Diagnostik in der Hand einer neu zu schaffenden „Funktionsstelle“ liegen. Das heißt, die Erzieher, die täglich mit den Kindern arbeiten, werden nicht für kompetent gehalten, im Alltag einzuschätzen, was sie den Kindern beibringen sollten. Ob es realistisch ist, dass die Erzieherin – menschlich traditionell eng eingebunden in ihre Kindergruppe – wartet, bis einmal im Monat die Mitarbeiterin der Funktionsstelle vorbeikommt und ihr dann sagt, welche Bewegungsspiele, Logikaufgaben und Reime sie mit ihren Kindern nutzen soll?
Bitternötig wären Veränderungen. Über ein Viertel der Berliner Viertklässler erreicht nicht die mathematischen Mindeststandards. In ganz Deutschland gilt das für 15,4% der Viertklässler – auch das ein trauriges Ergebnis. (Abschlussbericht, Seite 42)
Bei VERA 3, einem bundesweiten Mathematiktest für die 3. Klasse, verfehlten 2016 im Bereich Zahlen und Operationen (also: Rechnen) 37% der Kinder die alleruntersten Mindeststandards, insgesamt 65% verfehlten die Regelstandards. (Abschlussbericht, Seite 42)
Das wird später nicht besser, auch ein Drittel der Berliner Neuntklässler erreicht nichteinmal die Mindestanforderungen in Mathematik (ebd.). Auch in anderen Bundesländern sollte man nicht voreilig mit dem Finger zeigen – die Werte für ganz Deutschland sind besorgniserregend. Momentan aber ist es zumindest in Berlin so: Selbst Schulen, die offensichtlich besonders schlecht unterrichten, sind in keiner Weise verpflichtet, ihre Lehrer fortzubilden (S. 42ff). Die Kommission sieht das als Problem, formuliert dennoch sehr diplomatisch: „Aus einigen Schulen wird eine mangelnde Kultur berichtet, sich mit problematischen Ergebnissen der Leistungstests wie VERA 3, VERA 8 … aktiv auseinanderzusetzen und daraus Konsequenzen zu ziehen.“ (Seite 43)
Es gibt wenig Hoffnung für die Zukunft, außer, man entlässt eine Menge Lehrer oder schickt sie zurück an die Uni. Momentan ist jeder dritte Lehrer, der Mathematik unterrichtet, nämlich gar kein echter Mathelehrer, sondern hat eigentlich ein anderes Unterrichtsfach studiert oder ist von Beruf Surflehrer oder sonstiger Quereinsteiger. Daraus schließt die Kommission messerscharf: „Die notwendige fachdidaktische Kompetenz der Lehrkräfte …. ist in Mathematik vermutlich nur teilweise gegeben.“ (Seite 45).
Hat es wenigstens genützt?
Ist denn nun das ganze künstliche „schmackhaft machen“, dieser Unterricht mit Gemüsegesicht, überhaupt notwendig? Hat er irgendetwas besser gemacht? Leider nicht. In der Grundschule interessieren sich die meisten Schüler von sich aus noch für Mathematik und Naturwissenschaften. Das Interesse sinkt bei den Kindern mit schlechten Leistungen – also bei den Schülern, die zu wenig „systematische fachbezogene Förderung“ erhalten und die zu wenig üben. Es mangelt ihnen an Können, nicht an spannenden Experimenten oder YouTube Videos. Seit 2007 – durchschlagender Erfolg der flächendeckenden Kompetenzorientierung – finden allerdings immer weniger Kinder Mathematik und Naturwissenschaften interessant. (TIMMS Studie 2019). Das ist ja infantilisierungstechnisch auch ganz in Ordnung: Wenn sie es sowieso nicht lernen, kann es uns egal sein, ob es sie interessiert hätte.
Fazit: Wir rauben der Jugend die Zukunft, nur um uns besser zu fühlen
Ich fasse zusammen: Der PISA-Schock hat diese Fehlentwicklung lediglich beschleunigt. Bereits die Gestaltung der PISA-Aufgaben war Teil des Problems. Ich kann hier nur erneut den Artikel von Remus und Walcher empfehlen, der die mit PISA verbundenen Fehler sehr genau beschreibt. Kurz gesagt zielten die Aufgaben im PISA Test ausdrücklich auf die „Fähigkeit, Mathematik im Lebensalltag zu nutzen“, und nicht auf rein mathematische Fähigkeiten (ebd.).
Dass man überhaupt angefangen hat, echte Mathematik immer mehr durch diese vordergründigen Anwendungsaufgaben zu ersetzen, ist m.E. nur durch die hier beschriebenen Ideologien erklärlich.
Mathematik in ihrer klassischen Form bietet Schülern die Möglichkeit, sich hervorzutun, besser als andere zu sein. Eine marxistisch-hegelianisch (und somit politisch links zu verordnende) Bildungspolitik und Pädagogik steht für das Ziel, solche sichtbaren Unterschiede zu verwischen: Kollektivismus statt Individualismus. Hierhin gehört auch die sexistische Bestrebung, Stärken von Jungs im Vergleich zu Mädchen unsichtbar zu machen. Die Senkung des allgemeinen Niveaus dient so der Gleichmacherei zwischen starken und schwächeren Schülern.
Die Betonung sprachlich vermittelter Aufgaben hat den gleichen Effekt, da man keine eigentliche Mathematik mehr betreiben kann. Sie soll zugleich Geschlechterunterschiede verschwinden lassen. Ich unterstelle, dass es den entsprechenden Verantwortlichen dabei oft egal ist, ob dies insgesamt zu geringeren Leistungen führt – die zunehmende Homogenität der Schüler ist ihnen wichtiger.
Erstaunlicherweise war es ausgerechnet die hyperindividualisierte, wohlstandsverwahrloste Strömung in der Gesellschaft, die eine überraschende Allianz mit diesen eigentlich kollektivistisch gedachten Zielen einging. Es gab zu viele Eltern, die für ihre Kinder das Ansehen eines gewissen Schulabschlusses wünschten und zugleich nicht bereit waren, ihren Kindern (und sich) die damit verbundenen Mühen zuzumuten. Sie hießen diese Veränderungen willkommen. Ein äußerlich gleiches Abiturzeugnis für weniger Anstrengung wurde gerne genommen. Erst durch diese egoistische Haltung wurde es möglich, dass man ohne großen Widerstand den klassischen Mathematikunterricht aushöhlte.
Eine dreifache Allianz hat so den Mathematikunterricht (und das gesamte Bildungswesen, insbesondere aber das Gymnasium) schwer beschädigt. Sie besteht aus
- Eltern, die ein billiges (und damit im Wert gesunkenes!) Abitur für ihre Kinder wollen
- hell- bis dunkelroten Bildungspolitikern, denen Gleichmacherei wichtiger ist als die respektvolle Förderung aller Begabungen
- und Pädagogen, die leistungsorientierten Unterricht mit klaren Anforderungen ablehnen.
So vermeiden Eltern die Aufgabe, mit sanftmütiger Härte auf Fleiß zu bestehen und ihren Kindern Bildungsgüter statt TV-Programme zu bieten. Die Erziehungsideologie der letzten Jahrzehnte hat beides ja erfolgreich als „Tiger-Mom“ Gebaren diskreditiert.
Politiker glauben, sie könnten auf diesem Wege die gesellschaftlichen Probleme rund um voraussetzungslose Einwanderung, Inklusion und mangelhafte Lehrerbildung lösen. Andersdenkende werden als „elitär“ verunglimpft.
Und Pädagogen können sich einreden, spaßige Projekte wären für die Schüler viel vergnüglicher als der böse Frontalunterricht. Damit haben auch diejenigen gewonnen, die Benotung und das Anstreichen von Fehlern seit langer Zeit abgeschafft sehen wollen, weil dadurch angeblich schlimme seelische Schäden entstünden.
Auf der Strecke bleibt dadurch aber nicht nur der Mathematikunterricht – sondern auch die psychische Resilienz und Mündigkeit der jungen Generation. Mündigkeit kann man nur durch Bildung und Urteilsfähigkeit erreichen, und beides sinkt momentan durch die beschriebene Entwicklung. Ist es nicht höchst unfair, die Zukunft der Jugend derart zu beschädigen, nur damit die jetzt Erwachsenen sich besser fühlen?
Die Beitragsreihe über die sozialpolitischen Ursachen der „Entkernung“ unseres Mathematikunterrichts gehört zu unserer umfassenden Mathe-Reportage und hat 4 Teile.
Nerds und Streber – die Wurzel allen Übels (Teil 1/4)
Mathe passt nicht zur überindividualisierten Gesellschaft (Teil 2/4)
Die Besten in Mathe sind intelligente Jungs. Pfui! (Teil 3/4)
Sie befinden sich hier: Das Leben sei ein Ponyhof! (Teil 4/4)
Das gesamte Dossier über den Niedergang des Mathematikunterrichts wird hier vorgestellt: