Was genau passiert eigentlich, während die Augen beim Lesen eine Zeile Text abtasten? Wie unterscheiden sich die Blickbewegungen guter und schlechter Leser? Die Augenbewegungen beim Lesen bestehen aus einem rhythmischen Vorgang: Die Augen springen zum nächsten Wort (oder zur nächsten Wortgruppe), verharren dort mehr oder weniger lang und springen weiter zum nächsten Leseziel.

Diese Sprünge bezeichnet man als Sakkaden und das Verharren als Fixationen. Interessant für die Förderdiagnostik ist, wie weit und in welche Richtung die Augen springen und wie lange und wie häufig pro Zeile die Augen auf einem Wort verharren. Die vier wichtigsten Eckdaten, mit denen man Blickbewegungen beim Lesen beschreibt, sind also:

Sakkadenamplitude und Sakkadenrichtung

sowie Fixationsanzahl und Fixationsdauer.

Als Sakkaden bezeichnet man die ruckartigen, schnellen Blickbewegungssprünge zwischen zwei Haltepunkten (Fixationen), die dazu dienen, Buchstaben in der Zone des schärfsten Sehens (Fovea) auf der Netzhaut abzubilden. Während der Sakkaden, die beim Lesen etwa 20 bis 30 Millisekunden dauern, ist das visuelle Wahrnehmungsvermögen drastisch eingeschränkt.

Die Sakkaden beim Lesen folgen der Leserichtung. Die gegen die Leserichtung ausgeführten Sakkaden werden Regressionen genannt. Regressionen führen zu bereits gelesenen Textstellen zurück und dienen unter anderem dazu, Lesefehler zu korrigieren oder die Struktur des Satzes zu analysieren und den Bedeutungsinhalt gegebenenfalls neu zu bewerten, was gerade bei schwierigen und missverständlichen Textinhalten häufiger auftritt.
Sakkaden oder Blickbewegungssprünge innerhalb eines Wortes werden als Intrawortsakkaden bzw. Intrawortregressionen bezeichnet und Blickbewegungssprüngen über Wortgrenzen  hinaus Interwortsakkaden bzw. Interwortregressionen.

Die Größe eines Blickbewegungssprunges nennt man Sakkadenamplitude. Sie liegt bei kompetenten Lesern im Mittel bei sechs bis acht Buchstaben. Dieser Wert ist allerdings abhängig von der  Textschwierigkeit und der Leseintention (z.B. genaues Lesen oder nur Überfliegen eines Textes).

Während der Fixationen werden die Buchstaben auf der Fovea abgebildet und den Prozessen der visuellen Wahrnehmung zur Verfügung gestellt. Die Fixationen stehen in enger Abhängigkeit zu den bereits beschriebenen Parametern: Ihre Anzahl wird beim Lesen desselben Textes erhöht sein, wenn ein genaueres Lesen kleinere Sakkadenamplituden erforderlich macht (bspw. bei der Aufgabe, Rechtschreibfehler in einem Text zu suchen). Beim bloßen „Überfliegen“ eines Textes werden größere Buchstabenanzahlen übersprungen und die Menge der Fixationen sinkt.

Der am häufigsten genutzte Parameter zur Beschreibung von Blickbewegungen ist die Fixationsdauer als Maß der Zeitspanne zwischen zwei aufeinanderfolgenden Sakkaden. Auch die Fixationsdauer ist abhängig von der Aufgabenschwierigkeit, insbesondere von der erforderten Lesegenauigkeit. Als Mittelwerte werden für kompetente Leser Fixationsdauern von etwa 225 Millisekunden angegeben.

Ein Schwerpunkt in der Forschung zu den Blickbewegungen beim Lesen liegt auch auf der Analyse der Blickbewegungen von Personen mit Leseschwierigkeiten. Als Ursachen der Lese-Rechtschreibstörung wurden neben Verzögerungen in der Sprachentwicklung, phonologischen Verarbeitungsproblemen, genetischen Dispositionen, neurologischen Defiziten auch Störungen der Blick- und Wahrnehmungsfunktion diskutiert.

Da die dazu vorliegenden Forschungsergebnisse sehr uneinheitlich ausfallen, werden die Daten mittlerweile vorsichtiger und kritisch interpretiert. Kritik erfuhr dabei auch das methodische Vorgehen, die Blickbewegungen anhand von Aufgaben zu analysieren, die nicht auf Schriftsprache bezogen sind. Die Ergebnisse der Lese-Blickbewegungsforschung sind zudem zwischen verschiedenen Sprachen nicht ohne weiteres übertragbar, da morphologische Gesetzmäßigkeiten und Wortstrukturen sowohl das Blickverhalten als auch die Verstehensleistungen beeinflussen.

Generell lässt sich nicht nur für den deutschsprachigen Raum das Fehlen von Längsschnittstudien zur Entwicklung der Blickbewegungen beim Schriftspracherwerb feststellen. Einzig im englischsprachigen Raum ist eine Reihe von Untersuchungen veröffentlicht, die den Erwerb von Lesefertigkeiten mit Blickbewegungsmessungen begleiten. Darin konnte gezeigt werden, dass über die ersten sechs Schuljahre hinweg die Effizienz des Lesens steigt, was in einer allmählichen Verringerung der Fixationsdauern und Fixationsanzahlen und damit auch logischerweise in einer Vergrößerung der Sakkadenamplitude zum Ausdruck kommt. Insgesamt scheint auch die Automatisierung der Blickbewegungssteuerung beim Lesen einem Lernprozess unterworfen zu sein, während sich zum Beispiel die bevorzugten Landeposition von Sakkaden zwischen Wortanfang und Wortmitte bereits zu Beginn des Lesen Lernens zeigen.

Die Blickbewegungsmuster bei Menschen mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten scheinen dementsprechend durch häufige Fixationen, lange Fixationsdauer, viele Regressionen und kleine Sakkadenamplituden gekennzeichnet zu sein. Wirklich gesicherte und belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse dazu liegen jedoch noch nicht vor, sind aber an verschiedenen Stellen, z.B. auch am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, in Arbeit. Näheres dazu demnächst.

 

aus: Weiland, K., Wahl. M. u. Breitenbach E. (2016): Blickbewegungen und ihre Bedeutung bei der Diagnose und Therapie von Lesestörungen – Ergebnisse einer Vorstudie. In: Högner, N. (Hg.): Sehschädigung und ihre Kompensation. Marburg: Tectum

 

Weiterführende Literatur
Joos, M., Rötting, M. & Velickkovsky, B. M. (2008). Bewegungen des menschlichen Auges: Fakten, Methoden und innovative Anwendungen. In G. Rickheit, W. Deutsch & T. Herrmann (Hrsg.), Psycholinguistik ‒ Psycholinguistics. Ein internationales Handbuch ‒ An International Handbook (S. 142–168). Berlin, New York: de Gruyter.

Müsseler, J. (2008). Periphere und zentrale Prozesse beim Lesen. In G. Rickheit, W. Deutsch & T. Herrmann (Hrsg.), Psycholinguistik ‒ Psycholinguistics. Ein internationales Handbuch ‒ An International Handbook (S. 600–608). Berlin, New York: de Gruyter.

Radach, R., Günther, T. & Huestegge, L. (2012). Blickbewegungen beim Lesen, Leseentwicklung und Legasthenie. Lernen und Lernstörungen, 1 (3), 185–204.