Fehler darf man nicht maskieren
Als Psychologe und Diagnostiker neigt man dazu, die Frage nach der Bedeutung des Fehlers nicht besonders ernst zu nehmen. Das Beachten und Analysieren der Fehler, des Fehlerhaften ist in der Diagnostik etwas Selbstverständliches, es gehört zu ihrem Selbstverständnis. Diagnostik ohne Fehler ist schlichtweg undenkbar. Der Fehler muss ein Fehler sein dürfen! Untersucht man Menschen, stößt man zwangsläufig neben Stärken auch auf Schwächen. Andreas Möckel sagt: „Diagnostische Fragen sind Zwillingsfragen“. Anlass zur Diagnostik geben in der Regel Probleme und Schwierigkeiten, die entstanden sind aufgrund menschlicher Unzulänglichkeiten, aufgrund menschlichen Fehlverhaltens.
Diese unhinterfragte Selbstverständlichkeit droht verloren zu gehen, wenn die pädagogisch-psychologische Diagnostik mit bestimmten Ideen und Konzepte der Heil- und Sonderpädagogik konfrontiert wird.
1) Versuche in der Heil- und Sonderpädagogik, den Fehler unsichtbar zu machen
Immer wieder gab es sonderpädagogische Ideen und Konzepte, in denen – für einen Diagnostiker schwer nachvollziehbar – versucht wurde, den Fehler unsichtbar zu machen, ihn sprachlich zu kaschieren oder gar umzudeuten. Auf solche Ideen möchte ich zunächst eingehen, bevor ich dann die Bedeutsamkeit des Fehlers für die Diagnostik in zweierlei Hinsicht erläutere.
Mitte der 90iger Jahre wurde ein Paradigmenwechsel in der Sonderpädagogik ausgerufen. „Von den Stärken ausgehen“, „Vom Defizitkatalog zum Kompetenzinventar“ oder „Am Können ansetzen“ lauteten die Titel der einschlägigen Veröffentlichungen. Beim Blick auf behinderte Menschen sollten deren Kompetenzen in den Vordergrund rücken, was dramatische Folgen vor allem auch für die Diagnostik mit sich bringen würde. Eggert schlägt deshalb vor, negative Formulierungen in sonderpädagogischen Gutachten zu vermeiden: So könne man zum Beispiel statt „brutal“ „hat große Kräfte“ schreiben; „unselbständig“ ließe sich ganz gut durch „nimmt gern Hilfe an“ ersetzen.
Eine Daueraufgabe sehen offensichtlich manche Sonderpädagogen in der Suche nach unverdächtigen, keimfreien Namen für sich selbst, für ihr Arbeitsfeld und für die Menschen, mit denen sie sich beschäftigen. Negative Bezeichnungen wie „Behinderung“ oder „Störung“ werden so durch eher positiv und harmlos klingende ersetzt. Schon quasi im Ansatz soll das, was irgendwie nach Fehler klingt oder aussieht, vermieden werden.
So wurde aus der Schule für Geistigbehinderte die „Schule zur individuellen Lebensbewältigung“ und aus der Lernbehindertenschule die „Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen“. Kinder und Jugendliche zeigten plötzlich keine Verhaltensstörungen mehr, sondern „herausforderndes Verhalten“.
Auch in der inklusiven Pädagogik soll durch Dekategorisierung und die Ablehnung jeglicher Bewertung mittels Normen das Fehlerhafte, Behinderte oder gar Gestörte in der Unterschiedlichkeit verschwinden. Pädagogen sollen demnach ihre Schüler nicht mehr als geistig behindert, als hochintelligent, als lese-rechtschreibschwach, als schwerbehindert, als sozial-emotional gestört usw. wahrnehmen und verstehen, sondern all diese Kategorien gehen in der menschlichen Vielfalt auf. Die Kinder sind nicht mehr fehlerhaft, kompetent oder altersgemäß-normal, sondern einfach nur anders, verschieden.
2) Bedeutung des Fehlers in der pädagogisch-psychologischen Diagnostik
Solchen Vorstellungen und Bestrebungen steht nun die Diagnostik gegenüber und blickt irritiert auf den Fehler und das Fehlerhafte und fragt sich verzweifelt, wie sie sich von Neuem in die Pädagogik und Sonderpädagogik integrieren könnte, wie aus ihr eine fehlerlos-inklusive Diagnostik werden könnte.
Führen wir uns diese selbstverständliche Bedeutung des Fehlers in der pädagogisch-psychologischen Diagnostik anhand weniger Beispiele vor Augen:
Diagnostik ist fehlerhaft
Die meisten psychologischen Tests oder psychometrischen Verfahren werden auf der Basis der Klassischen Testtheorie entwickelt. Das erste Axiom dieser Theorie besagt, dass sich jeder gemessene Wert zusammensetzt aus dem wahren Wert und dem Fehlerwert. Jede Messung mit einem psychologischen Test ist also fehlerhaft. Die Theorie sagt weiter, dass der wahre Wert niemals bestimmt werden kann, sondern man sich mit der Abschätzung des Messfehlers zufriedengeben muss. Die Qualität oder Güte eines Verfahrens ist bestimmt durch die Größe seiner Messungenauigkeit. Über die Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität wird im Konstruktionsprozess der Grad der Fehlerhaftigkeit aus unterschiedlichen Perspektiven bestimmt.
Jeder Diagnostiker, der eine Verhaltensbeobachtung durchführt, weiß, welche Beobachtungs- und Bewertungsfehler ihm dabei unterlaufen können und wie er seine Beobachtung anlegen muss, damit die Beobachtungsergebnisse möglichst wenig verfälscht werden.
Im Rahmen der Diagnostik sind nicht nur die Fehler der Diagnostizierten bedeutsam, sondern die Fehlerhaftigkeit der eigenen Methode wird zum Gegenstand der Wissenschaft.
Diagnostik sucht den Fehler
Die veränderungsnotwendigen und veränderbaren Entwicklungs- und Lernbereiche eines Kindes zu finden, ist nach Kobi Aufgabe der Förderdiagnostik. Der Fehler verweist eben auf das Fehlende, auf die Veränderungsnotwendigkeiten. Das zu Fördernde sucht der Förderdiagnostiker dort, wo das Leistungsvermögen, das Wissen, die Kompetenzen seiner Klienten erschöpft sind, wo ihr Können in Nicht-Können umschlägt.
Ein sehr anschauliches Beispiel dafür, wie der Diagnostiker mit dem Fehler arbeitet, ist die Methode der systematischen Aufgabenvariation nach Wygotski. Er geht davon aus, dass es nicht den einen Entwicklungsstand gibt, sondern immer zwei. Alles, was wir ohne Hilfe und Unterstützung können, kennzeichnet den aktuellen Entwicklungsstand. Und das, was wir mit Hilfe zuwege bringen, den potentiellen. Die dazwischenliegende Zone der proximalen Entwicklung durchschreiten wir, indem wir für uns eigentlich zu schwere Aufgaben mit Unterstützung kompetenterer Personen bewältigen. Auf diese Weise lernen wir. Aufgaben, die wir zunächst nur mit Hilfe meisterten, können wir nach einiger Zeit alleine und sie zählen dann zu unserem aktuellen Entwicklungsstand. Gleichzeitig tun sich für uns neue Möglichkeiten auf.
Aus diagnostischer Sicht ist der potentielle Entwicklungsstand der interessantere. Ein Beispiel macht das schnell deutlich. Wygotski berichtet, dass er vier Kinder mit geistiger Behinderung untersucht habe. Alle vier zeigten sich bei derselben Aufgabenstellung überfordert und konnten sie nicht mehr fehlerfrei lösen. Berücksichtigt man nur den aktuellen Entwicklungsstand, würde man von vier gleich entwickelten Kindern ausgehen. Wygotski gab den einzelnen Kindern nun individuelle Hilfestellungen und siehe da, sie konnten auf diese Weise noch unterschiedlich viele weitere Aufgaben lösen. Wygotski schlussfolgerte: Diese vier Kinder sind nicht gleich entwickelt, sondern sie unterscheiden sich deutlich in ihrem potentiellen Entwicklungsstand. Vom Fehler ausgehend offenbart die Suche nach dem potentiellen Entwicklungsstand mit Hilfe der systematischen Aufgabenvariation die nächsten Lernschritte und die dazu erforderlichen Lernhilfen.
Auch in der Selektions-, Platzierungs- oder Statusdiagnostik sucht der Diagnostiker selbstverständlich nach Fehlern, nun aber um Passung zwischen dem Verhalten und den diagnostischen Kategorien zu prüfen. Legasthenie wird heute üblicherweise unter Rückgriff auf das internationale Klassifikationsschema ICD diagnostiziert und damit auf 5 Ebenen oder Achsen beschrieben. Die umschriebene Entwicklungsstörung des Lesens und Schreibens liegt vor:
- wenn keine Verhaltensstörungen zu beobachten sind,
- wenn viele Fehler im Lesen und Rechtschreiben zu finden sind,
- wenn bei altersgemäßen Denkaufgaben keine oder nur sehr wenige Fehler gemacht werden,
- wenn keine körperlichen oder neurologischen Erkrankungen vorliegen
- und wenn auch keine auffälligen psychosoziale Umstände erkennbar sind, wie z.B. fehlerhafte Unterrichtung.
Wer an der richtigen Stelle in ausreichender Zahl Fehler macht, dem wird eine Legasthenie zugeschrieben und bescheinigt und dem steht – von der Solidargemeinschaft finanziert -kostenlose Therapie und Förderung zu.
3) Inklusive Diagnostik ist Förderdiagnostik
So scheinen sich die inklusive Pädagogik und die pädagogisch-psychologische Diagnostik unvereinbar gegenüber zu stehen. Aber eben nur scheinbar, denn:
- Der Inklusionsbegriff hat sich als relativ elastisch erwiesen; mittlerweile gibt es bereits einen engen und einen weiten. Vielleicht taucht demnächst auch noch eine XXL-Variante auf.
- Mit der Zeit gewinnen die Gemäßigten und eher praktisch Denkenden mehr und mehr die Lufthoheit über den universitären Schreibtischen und den Klassenzimmern und landen die inklusiven theoretischen Höhenflüge auf dem Boden der Unterrichtspraxis:
- Leistungsbewertungen, die Abschlüsse, Zugänge und das Aufrücken sichern, also selektions- bzw. statusdiagnostische Fragestellungen, sind auf einmal wieder mit dem Gedanken der Inklusion vereinbar., kann man in der einschlägigen Fachliteratur lesen.
- Auch macht sich in der inklusiven Schule wieder der Gedanke breit, dass Ressourcen begründeter maßen verteilt werden müssen, und zwar mit Hilfe diagnostischer Methoden und Erkenntnisse.
- Inklusive Diagnostik, heißt es, bestehe aus dem Ermitteln des aktuellen Lernstandes, dem Formulieren nächster Lernschritte auf ein Lernziel hin und dem Finden von Mitteln und Wegen, um dieses Lernziel zu erreichen.
- Nimmt man diese Äußerungen nicht nur zur Kenntnis, sondern auch ernst, wächst in einem zunehmend der Verdacht, dass am Ende alles beim Alten bleibt. Damit es aber nicht so aussieht, greift der kluge Sonderpädagoge auf eine altbewährte Strategie zurück: die Umbenennung. Und so heißt Förderdiagnostik künftig einfach inklusive Diagnostik. Nachzulesen im neuen „Handbuch Inklusive Diagnostik„. Hier finden Sie auf 600 Seiten alles, was ihnen bisher als Förderdiagnostik bekannt und vertraut war…