Nun ist er wieder entbrannt, der Streit um die beste Didaktik beim Erlernen des Lesens und Schreibens. Neu entfacht haben ihn zwei Psychologen aus dem Institut für Psychologie an der Universität Bonn mit einer Studie zu den Rechtschreiberfolgen unterschiedlicher didaktischer Konzepte im Erstunterricht. Tobias Kuhl und Una M. Röhr-Sedlmeier haben die Ergebnisse ihrer Studie auf dem 4. Dortmunder Symposium der empirischen Bildungsforschung im Juli in Dortmund und jetzt ganz aktuell auf dem 51. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Frankfurt (15.-20.9.2018) vorgestellt.

Diese Debatte wird schon seit vielen Jahren geführt und kommt offensichtlich zu keinem Ende. Dabei stehen sich im Grunde zwei didaktische Vorgehensweisen im Erstunterricht unversöhnlich gegenüber: Der lehrgangsorientierte Fibelansatz und der Spracherfahrungsansatz („Lesen durch Schreiben“ und „Rechtschreibwerkstatt“).

Was macht die konkurrierenden Verfahren aus?

Das Lehren des Lesens und Schreibens mit Hilfe einer Fibel kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Einer sachlich-fachlichen Logik folgend werden die einzelnen Buchstaben den Kindern in einer festgelegten Reihenfolge näher gebracht. Der fibelgestützte Schriftspracherwerb findet in einem eher geschlossenen und sehr stark vom Lehrer gelenkten Unterricht statt. Ein vorgegebenes Wortmaterial dient der systematischen Analyse einzelner Laute und ihrer Lautzeichen. Mit den so erworbenen Lautzeichen können neue Worte gebildet oder synthetisiert werden.

Der Spracherfahrungsansatz stellt eher eine lernbereichsspezifische Spielart des offenen Unterrichts dar. Dem standardisierten Vorgehen wird hier das selbsttätige, eigenaktive und erfahrungsbezogene Lernen vorgezogen. Der Schriftspracherwerb wird individualisiert dem eigengesteuerten Lernen des Kindes überantwortet:

– Das Wortmaterial wird nicht durch Lehrer und Fibel vorgegeben und reglementiert, sondern es wird von den Kindern selbst je nach Interessenlage geliefert. Gearbeitet wird mit einem reichhaltigen Angebot an Materialien und Arbeitsmitteln, an dem sich die Kinder frei bedienen können.

– Unter Berufung auf lern- und entwicklungspsychologische Erkenntnisse wird darauf vertraut, dass die Kinder ihre eigenen Strategien entwickeln, um sich die Schriftsprache zu erwerben. Eine bestimmte vom Lehrer vorgegebene Lese- und Schreiblernmethode gibt es nicht.

– Durch die Betonung der Eigenaktivität, der selbsttätigen Auseinandersetzung der Kinder mit der Schrift wird im Anfangsunterricht dem Schreiben ein gewisser Vorrang vor dem Lesen eingeräumt. Dies geschieht in extremer Form bei dem von Herrn Reichen stammenden Konzept „Lesen durch Schreiben“, aber natürlich auch in der „Rechtschreibwerkstatt“.

– Ein ausgeprägt differenzierender und individualisierender Unterricht geht von den Spracherfahrungen der einzelnen Kinder aus und ist dem individuellen Entwicklungsstand angepasst. Lernen im Gleichschritt wie beim Fibellehrgang ist verpönt.

– Verlesungen und Falschschreibungen werden nicht als korrekturbedürftige Äußerungen oder gar als Inkompetenz der Kinder angesehen, sondern als entwicklungsbedingte Vereinfachungen, als einem Entwicklungsmodell folgendes Durchgangsstadium hin zum orthographisch richtigen Schreiben und fehlerfreien Lesen.

In der leidenschaftlich geführten Auseinandersetzung zwischen den Didaktikern führen die einen ins Feld, dass der Spracherfahrungsansatz nur bei gut begabten Kindern funktioniere, nicht aber bei denen, die aus einem spracharmen Milieu stammen oder über mangelhafte kognitive Fähigkeiten verfügen. Die anderen verweisen darauf, dass durch das sture Festhalten an der Fibel ein neugieriges, eigenaktives und selbstgesteuertes Lernen sowie der kreativ-schöpferische und damit lustbetonte Umgang mit Sprache verhindert werde. Letztendlich ginge dabei die für weiteres Lernen wichtige intrinsische Schreib- und Lesemotivation verloren. Durch die dünne und uneinheitliche empirische Befundlage kann keine der beiden Positionen für sich beanspruchen, den Königsweg gefunden zu haben. Oder anders formuliert: Aufgrund der empirischen Ergebnisse lässt sich keine der Lehrmethoden alleine und im Wesentlichen für das Gelingen oder Scheitern des Schriftspracherwerbs verantwortlich machen.

Mehr Motivation und weniger Fehler durch Fibelansatz?

Und nun treten ein Wissenschaftler und eine Wissenschaftlerin auf den Plan und behaupten, ihre Ergebnisse sprächen deutlich für die Überlegenheit des Unterrichts mit dem Fibelansatz. Im Vergleich der drei Didaktikgruppen (Fibel, Lesen durch Schreiben, Rechtschreibwerkstatt) verfügten die systematisch angeleiteten Kinder am Ende der dritten Klasse über signifikant bessere Rechtschreibleistungen. Schüler, die mit „Lesen durch Schreiben“ unterrichtet wurden, machten am Ende im Schnitt 55 Prozent mehr Rechtschreibfehler, „Werkstatt-Schüler“ sogar 105 Prozent mehr als „Fibelkinder“. Auch für Kinder mit nicht deutscher Muttersprache sei der Fibelansatz angeblich von Vorteil. Die geringere Leistungsstreuung verweise auch noch darauf, dass sehr viele Kinder von diesem didaktischen Ansatz profitieren. Die intrinsische Schreib- und Lesemotivation der „Fibelkinder“ war nicht – wie immer behauptet und erwartet – geringer als bei den nach dem Spracherfahrungsansatz unterrichteten. Insgesamt könne demnach ein Erstunterricht nach dem Spracherfahrungsansatz nicht empfohlen werden. Vor allem die Rechtschreibwerkstatt führe bei vielen Kindern zu besonders geringen Rechtschreibleistungen.

Saubere empirische Arbeit

Diese Aussagen gewinnen an Gewicht, wenn man die aufwändige empirische Studie im Detail betrachtet:

Fragestellung: Führt der Unterricht mit verschiedenen rechtschreibdidaktischen Ansätzen (systematischer Fibelansatz, Lesen durch Schreiben, Rechtschreibwerkstatt) zu unterschiedlichen Lernleistungen im Verlauf der Grundschule und unterscheiden sich die Schüler aus den drei verschiedenen Didaktikgruppen in ihrer intrinsischen Lese- und Schreibmotivation?

Methode: Insgesamt nahmen 3084 Grundschulkinder aus 12 Schulen in Nordrheinwestfalen an der Studie teil. Zu Beginn der ersten Klasse wurden alle Kinder im Hinblick auf die Phonologische Bewusstheit als der zentralen Vorläuferfertigkeit für den Schriftspracherwerb mit dem „Rundgang durch Hörhausen“ überprüft. In halbjährlichem Abstand wurden ab Ende der 1. Klasse die Rechtschreibleistungen mit der jeweils altersgemäßen Form der „Hamburger Schreibprobe“ erhoben. Über 5 Messzeitpunkte hinweg konnten auf diese Weise die Rechtschreibkompetenzen der Kinder nicht nur im Querschnitt, sondern auch im Längsschnitt analysiert werden. Zusätzlich wurden demographische Daten der Eltern sowie die intrinsische Lese- und Schreibmotivation der Kinder auf selbstentwickelten 4-stufigen Likertskalen erfasst.

Nun ist das Ergebnis einer empirischen Studie streng genommen für sich noch keine Erkenntnis.  Zweierlei fehlt noch:

Zunächst muss ein kritischer Blick auf die Forschungsmethodik geworfen werden. Hier gibt es bei der vorliegenden Studie nichts zu kriteln. Sie ist solide, der Fragestellung angemessen und auf anspruchsvollem methodischen Niveau durchgeführt. Die Autoren können bei ihren Analysen auf Längsschnitts- und Querschnittsdaten zurückgreifen.

Die PISA-Sieger arbeiten mit Lehrgängen und Frontalunterricht

Zum anderen muss das Ergebnis erklärt und damit in den vorhandenen Erkenntnis- und Wissensstand eingeordnet werden. Widersprüche, Übereinstimmungen, Ergänzungen und Beschränkungen gilt es zu diskutieren. Für viele vielleicht überraschend tun sich beim Blick in unseren bisherigen Wissensbestand vor allem Übereinstimmungen auf. Allzu stark beherrschen nämlich Moden und nicht gesicherte Forschungsergebnisse den Unterricht in Schulen und das Denken und Planen der Bildungspolitiker. Selbständiges Lernen, offener Unterricht, ein sich zurücknehmender Lehrer, der das Lernen seiner Schüler nur noch begleitet werden propagiert. Das Traditionelle wie Frontalunterricht, die direkte Instruktion und Unterweisung, stumpfsinniges Üben wirkt unterlegen. Das Moderne, Freie, Offene scheint auf dem Vormarsch.

Die wissenschaftliche Erkenntnislage ist eine andere und der gerne bemühte und etwas neidische Blick auf die hervorragenden Lernleistungen von Schülern aus fernen und nahen Ländern war immer offensichtlich mehr oder weniger getrübt. Übersehen wurde nämlich zum Beispiel, dass Japans Paukschüler den deutschen weit überlegen waren, weil die Lehrkräfte über eine differenzierte Choreographie der Lernprozesssteuerung verfügten. Viele Jahre waren deutsche Bildungspolitiker fasziniert, ja geradezu hypnotisiert vom erfolgreichen finnischen Gesamtschulsystem. Übersahen dabei jedoch geflissentlich neben der hohen Förderqualität den dort vorherrschenden Frontalunterricht.

Gute Lehrer haben den Schülern etwas zu sagen und müssen sich nicht zurücknehmen

Beginnen wir mit der wissenschaftlichen Einordnung bei der vielbeachteten Hattie-Studie. Nach der Analyse von 800 Metastudien und 50 000 Einzelstudien kommt Hattie zu dem Ergebnis, dass die Lehrkraft neben den Schülermerkmalen die wichtigste Variable ist, mit der man schulische Lernerfolge erklären kann. Im OECD-Bericht aus dem Jahr 2007 ist der Satz zu lesen: „Die Qualität eines Schulsystems kann nie besser sein als die Qualität seiner Lehrkräfte“. Wie gut Kinder lernen, hängt vom Können ihrer Lehrer ab und nur in geringem Maße von Schulstrukturen. Fragt man sich, wie ein guter Lehrer unterrichtet, welche Methoden er einsetzt, findet man eine Antwort wiederum in Meta- und Megastudien, die Ergebnisse aus tausenden von Einzelstudien zusammenfassen. Zu den erfolgreichsten Lehrmethoden zählt die direkte Instruktion, die direkte Unterweisung der Schüler durch den Lehrer (Walter 2002). Schade nur, dass dies eine Reihe von Lehrkräften und die meisten Bildungspolitiker nicht wissen (Runow u. Borchert 2003). Fragt man Schüler und Lehrer, welche Eigenschaften ein guter Lehrer besitzen sollte, erhält der „modebewusste“ Lehrer oder Bildungspolitiker überraschende Antworten. Der ideale Lehrer verfügt laut Schülermeinung in erster Linie über Wissen und die Fähigkeit, es zu vermitteln (Fachwissen, Allgemeinwissen, Didaktik). Einfühlungsvermögen als Eigenschaft eines guten Lehrers rangiert dagegen auf einem der hintersten Plätze. Fataler Weise sehen das die befragten Lehrkräfte genau umgekehrt (Wilbert u. Gerdes 2007).

Kehren wir zur neuen Studie zurück und stellen schlicht und ergreifend fest: Ihre Ergebnisse bestätigen bisherige Befunde zum Erstunterricht und passen hervorragend zum vorhandenen empirischen Wissen. Es ist  demnach tatsächlich wenig hilfreich, wenn Lehrer ihre Schüler beim Erlernen des Lesens und Schreibens lediglich wohlwollend begleiten. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, den Schriftspracherwerb ihrer Schüler zu lenken und zu leiten; ihn so zu steuern, dass (vielleicht durchaus kreative) Umwege oder gar Sackgassen vermieden werden. Dazu gehört auch, dass sie aufmerksam die Lernleistungen der Schüler überwachen: das Richtige loben und die Fehler korrigieren. Lernverlaufsdiagnostik heißt das im heutigen Fachjargon. Dazu gehört auch, dass sie über die Fehler der Kinder nachdenken, um herauszufinden, was diese noch nicht gelernt haben und wozu sie welche Unterstützung brauchen. Dies können Lehrkräfte leisten, indem sie die gute alte Förderdiagnostik bemühen.

 

Literatur:

Kuhl, T. u. U.M. Röhr-Sedlmeier (2018): Der Verlauf des Rechtschreib-Lernens – Drei Didaktiken und ihre Auswirkungen auf Orthographie und Motivation in Grundschulen. (https://www.psychologie.uni-bonn.de/de/abteilungen/entwicklungs-und-paedagogische-psychologie/mitarbeiterinnen-und-mitarbeiter/m.sc.-tobias-kuhl-1/poster-buko-rechtschreiberfolg-nach-unterschiedlichen-didaktiken-21.09.2018)

Breitenbach, E. u. Weiland, K. (2010): Förderung bei Lese-Rechtschreibschwäche. Stuttgart: Kohlhammer

Götz, M. (2004): Schriftspracherwerb als grundschuldidaktisches Problem. In: Möckel, A., Breitenbach, E., Drave, W. u. Ebert, H. (Hg): Leseschreibschwäche. Vorbeugen, Erkennen, Helfen. Würzburg: edition bentheim

Hattie, J. A.C. (2009): Visible Learning. A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievment. New York: Routledge

Runow, V. u. Borchert, J. (2003): Effektive Interventionen im sonderpädagogischen Arbeitsfeld – ein Vergleich zwischen Forschungsbefunden und Lehrereinschätzungen. Heilpädagogische Forschung 29, 189-203

Walter, J. (2002): „Einer flog übers Kuckucksnest“ oder welche Interventionsformen erbringen im sonderpädagogischen Feld welche Effekte? Zeitschrift für Heilpädagogik 11, 442-450

Wilbert, J. u. Gerdes, H. (2007): Lehrerbild von Schülern und Lehrern: Eine empirische Studie zum Vergleich der Vorstellungen vom idealen und typischen Lehrer. Psychologie in Erziehung und Unterricht 54, 208-222