Gleiches Recht für alle – haben dann alle gleich Recht?
Ist Ihnen das auch schon aufgefallen: Neuerdings betonen Wissenschaftler in ihren Artikeln mit einer gewissen Verzweiflung, dass es sich bei den vorgestellten Erkenntnissen um rational überprüfte Ergebnisse handelt und nicht bloß um eine – austauschbare und beliebige – Meinung. Früher gehörten Artikel mit „Meinungen“ in eine eigene kleine Rubrik (z.B. diese hier), während Befunde, die zur Widerlegung und Überprüfung der wissenschaftlichen Gemeinschaft präsentiert wurden, der Standard waren (naja, zumindest außerhalb der Pädagogik…). Heute muss man gelegentlich erklären, dass es überhaupt noch so etwas wie harte Fakten gibt. Meiner Erfahrung nach sind es nicht selten ein und die selben Personen, die sich einerseits über das postfaktische Zeitalter und unseriöse Äußerungen von Präsidenten aus Übersee beklagen, und andererseits von gut belegten Tatsachen wie der Überlegenheit qualifizierten Frontalunterrichts, den Vorteilen strukturierter Leselehrgänge oder der Notwendigkeit regelmäßigen Übens nichts wissen wollen. Rasch heißt es dann „Jaaaaa, das meinen vielleicht Sie, aber in meinen Augen…“
Das Ende der fachlichen Autorität
Unser amerikanischer Kollege Tom Nichols hat schon vor einigen Jahren auf den Punkt gebracht, was Kinderärzte, Lehrkräfte, Therapeuten und andere Kollegen zunehmend erleben: Es geht um die Behauptung, in einer demokratischen Gesellschaft hätten alle Aussagen, egal von wem, das gleiche Gewicht. Dementsprechend besitzen Experten keinen Wissensvorsprung mehr, den man zunächst bescheiden zur Kenntnis nehmen sollte, um sich dann eine eigene Meinung zu bilden. Im Gegenteil, wer eine gut belegte und gut begründete Position vertritt und beharrlich verteidigt, gilt als voreingenommen, autoritär oder elitär. Mit einer solchen Haltung wird der kritisch-rationalistische Prozess der Erkenntnisgewinnung unterminiert. Wissenschaftler stellen bei ihrer Wahrheitssuche zunächst begründete Behauptungen auf, die sie dann im zweiten Schritt auf ihren Wahrheitsgehalt hin prüfen. Sie tun dabei alles, um zu beweisen, dass die aufgestellte Behauptung falsch ist. Gelingt ihnen dies nicht, gehen sie davon aus, dass ihre Behauptung wahr ist, zumindest so lange, bis jemand das Gegenteil beweisen kann.
Wir sehen diesen Verfall rationalen Denkens in alltäglichen Situationen: Man begründet aus fachlicher Sicht, warum etwas so und so ist und daraus die Empfehlung x abgeleitet werden muss – und dann sagt das Gegenüber: “Ja, das sehen Sie vielleicht so, aber ich glaube das nicht. Ich habe gute Erfahrungen mit Homöopathie / Ich fühle, es ist anders / Ich habe aber einmal erlebt, wie… / Aber meine Kinesiologin rät mir…” Die Aussagen sind beliebig ergänzbar. Im Internet findet zudem jeder irgendeinen Beleg für die eigene Auffassung. Wenn zur persönlichen Filterblase noch eine gewisse Bequemlichkeit hinzukommt und die ehrlichen Antworten lauten müssten “Das ist mir aber zu anstrengend!“, „Das habe ich nicht verstanden.“ oder „Ich möchte mich eigentlich nicht selbst erziehen müssen”, dann sind sachbezogene Diskussionen nur noch schwer möglich.
Logische Wahrheit wird behandelt, als gäbe es sie nicht
Logische Wahrheit wird behandelt, als gäbe es sie nicht. Es wird vermittelt, man könne über alles diskutieren und unterschiedlicher Meinung sein; es scheint, als gäbe es überhaupt keine wahren bzw. falschen Aussagen mehr. (Erstaunlich, mit welcher Beharrlichkeit manche Gesprächspartner dennoch an der jeweils eigenen festhalten.) Mit diesem selbstgerechten Habitus einer progressiv-antiautoritären Pippi Langstrumpf empört man sich gerne im Namen von Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung über jene Erkenntnisse, die nicht ins subjektive eigene Weltbild passen, und vergisst dabei ganz, dass auch Pippi Langstrumpf eigentlich bloß ein genetisch und finanziell privilegiertes, fachliche Leistungen verachtendes, wohlstandsverwahrlostes Gör war. Eine Ursache dieser Entwicklung ist der erkenntnistheoretisch fragwürdige Umgang mit dem Konzept “Wahrnehmung”. Die durch Hegel, Merleau-Ponty, Edmund Husserl und andere verbreitete billige Auffassung, Wahrnehmungen könnten wahr sein, seien aber eben subjektiv verschieden, hat als idealistischer Sauerteig inzwischen die ganze Gesellschaft durchgoren. Man kann nur hoffen, dass die nächsten Jahrzehnte einen Umschwung zurück zur Rationalität bringen. Karl Popper rotiert sicherlich im Grabe angesichts der aktuellen geistigen Situation unserer Zeit.
Pseudodemokratischer Meinungsozialismus
Ich will Ihnen nicht vorenthalten, was Tim Nichols schreibt:
“Today, any assertion of expertise produces an explosion of anger from certain quarters of the American public, who immediately complain that such claims are nothing more than fallacious “appeals to authority,” sure signs of dreadful “elitism,” and an obvious effort to use credentials to stifle the dialogue required by a “real” democracy.
But democracy … denotes a system of government, not an actual state of equality. It means that we enjoy equal rights versus the government, and in relation to each other. Having equal rights does not mean having equal talents, equal abilities, or equal knowledge. It assuredly does not mean that “everyone’s opinion about anything is as good as anyone else’s.” And yet, this is now enshrined as the credo of a fair number of people despite being obvious nonsense.”
Die Auffassung, dass jedermanns Meinung so gut sei wie jede andere, ist eine Art pseudodemokratischer Meinungsozialismus. Manche sehen darin den Königsweg, der Kollektivismus und Individualismus am Ende doch noch vereint. Aber wie im real existierenden Sozialismus sind am Ende alle nur auf niedrigstem Niveau gleich – nämlich gleich arm dran. Kein Wunder, dass die unüberlegte Forderung, schulische Leistungsbeurteilungen abzuschaffen, in Deutschland soviel Unterstützung findet. Dass damit auch die Wertschätzung für Leistung ein Ende haben wird, ist sicher lediglich meine irrelevante Meinung. Vielleicht finanziert ja Japan oder ein anderer PISA-Sieger dann die vielen Teslas und Einfamilienhäuser, ohne die unsere 45% Abiturienten (oder 100% inklusiven Gesamtschulabsolventen) nicht standesgemäß werden leben können…