Flüssig lesen kommt von selbst – oder?
Selbst Lehrkräfte, denen das Lesen eigentlich am Herzen liegt, streben die wichtige Schwelle von 150 WPM bisweilen nicht bewusst an. Das ist bedauerlich, da Lesefreude nur bei einer entsprechend hohen Lesegeschwindigkeit und flüssigem Lesen entstehen kann. Leider haben auch Grundschullehrkräfte mit pädagogischen Strömungen zu kämpfen, die jegliche sachlich begründete Anforderung als „Zumutung“ und potentielle Gefährdung der kindlichen Seele betrachten. Ich vermute, durch den Einfluss dieser Ideen auf Unterricht und Elternschaft, aus Resignation angesichts der vielen Fernseher in deutschen Kinderzimmern und aus mangelndem Wissen um die Bedeutung dieser Schwelle heraus streben viele Lehrkräfte keine klaren Ziele in der Lesegeschwindigkeit an.
Eine solch Herangehensweise hat aber lebenslange negative Folgen für die Schüler, wie die unten vorgestellten Zahlen aus den USA belegen. Dies sind die Lesegeschwindigkeiten amerikanischer Schüler, die auch interessante Schlussfolgerungen für Deutschland zulassen. In einer großangelegten Längsschnittstudie fanden Klicpera und Gasteiger-Klicpera für deutsche Schüler ganz ähnliche Werte (in: Lesen und Schreiben. Entwicklung und Schwierigkeiten. Bern 1993).
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Folgende Tabelle zeigt die „Entwicklung der Lesegeschwindigkeit in WPM ohne gezielte Förderung der schwächeren und auch stärkeren Leser (USA)“
(nach: Rosebrock, Cornelia: Leseförderung aus systematischer Sicht, S. 131; in: Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben – Hellmich, Frank und Siekmann, Katja (Hrsg.): Sprechen, Lesen und Schreibenlernen; Berlin, 2013)
Durchschnitt |
25. Perzentil |
75. Perzentil |
|
1. Klasse Winter |
23 |
12 |
47 |
1. Klasse Frühling |
53 |
28 |
82 |
2. Klasse Herbst |
51 |
25 |
79 |
2. Klasse Winter |
72 |
42 |
100 |
2. Klasse Frühling |
89 |
61 |
117 |
3. Klasse Herbst |
71 |
44 |
99 |
3. Klasse Winter |
92 |
62 |
120 |
3. Klasse Frühling |
107 |
78 |
137 |
4. Klasse Herbst |
94 |
68 |
119 |
4. Klasse Winter |
112 |
87 |
139 |
4. Klasse Frühling |
123 |
98 |
152 |
5. Klasse Herbst |
110 |
85 |
139 |
5. Klasse Winter |
127 |
99 |
156 |
5. Klasse Frühling |
139 |
109 |
168 |
6. Klasse Herbst |
127 |
98 |
153 |
6. Klasse Winter |
140 |
110 |
167 |
6. Klasse Frühling |
150 |
122 |
177 |
7. Klasse Herbst |
128 |
102 |
156 |
7. Klasse Winter |
136 |
109 |
165 |
7. Klasse Frühling |
150 |
123 |
177 |
8. Klasse Herbst |
133 |
106 |
161 |
8. Klasse Winter |
146 |
115 |
173 |
8. Klasse Frühling |
151 |
124 |
177 |
Was zeigen uns diese Werte? Sie zeigen, was passiert, wenn man nicht aktiv darauf hinarbeitet, dass Schüler am Ende der 4. Klasse eine Lesegeschwindigkeit von etwa 150 WPM erreicht haben (vgl. Hunziker 2007, 118).
Die entscheidenden Fragen für unsere Schüler sind ja:
- Wie schnell muss man in den ersten vier Schuljahren lesen lernen, um diese Schwelle zu erreichen?
- Wie geht es weiter, wenn man darauf verzichtet?
- Wird die Mindestgeschwindigkeit von selbst nach längerer Zeit erreicht?
Ehe wir zu einer Interpretation im Detail kommen, möchte ich diesen Punkt klar herausstellen: Wenn man die o.g. Durchschnittswerte als Lernziel avisierte, würde man damit in manchen deutschen Grundschulen bereits auf Ablehnung stoßen und es wäre von „unnötigem Druck“ die Rede. Ich kann mir die entsprechenden Einwände von Brügelmann und Kollegen lebhaft vorstellen. In Wirklichkeit sind aber selbst diese Werte noch unzulänglich, da mit diesem Verlauf maximal die Hälfte der Schüler das Plateau der 150 WPM erreicht oder übertrifft – und zwar erst nach acht, nicht vier Jahren Schule!
Wenn wir solche unguten Entwicklungen verhindern möchten, brauchen wir höher gesteckte Ziele, konsequente erzieherische und unterrichtliche Umsetzung und die dazu nötige Zeit für das tägliche Lesen. Wie soll eine bessere Leseentwicklung aber zu Stande kommen, wenn Ziele für die Lesegeschwindigkeit pauschal abgelehnt werden oder wenn man sich mit Leistungen zufrieden gibt, die langfristig dazu führen, dass die Hälfte der Kinder nie ein normales Lesetempo erreicht? Ohne angemessene Ziele und eine kontinuierliche förderdiagnostische Begleitung als selbstverständlichen Teil des Deutschunterrichts ist keine Verbesserung machbar.
Man muss sich vielleicht ehrlich damit auseinandersetzen, ob manche Kinder aufgrund von Vorwissen und häuslicher Bildungssituation nie eine routinierte Lesetechnik erwerben werden, und für diese Gruppe einen Plan fassen. Aber das Gros der Kinder kann zügig lesen lernen, und eine große Gruppe kann (und muss um seiner Zukunft willen) sehr schnell und konzentriert lesen lernen. Alle diese Kinder haben es verdient, dass die Lehrkraft jederzeit weiß, wo sie stehen, und dass Eltern sich die Zeit nehmen, tägliche Lesezeiten zur festen Gewohnheit zu machen – auch und gerade, wenn die Entwicklung bis zur Schwelle von 150 WPM anstrengend ist.
Weiterlesen:
Alle Teile des Themenblocks „Lesegeschwindigkeit“ finden Sie, wenn Sie dieses Schlagwort im Suchfeld eingeben, oder über folgende Liste:
Teil 1: Warum sollte man 150 Wörter pro Minute lesen können?
Teil 2: Wie schnell sollte ein Kind in welchem Schuljahr lesen?
Teil 3: Flüssig lesen kommt von selbst – oder?
Teil 4: Was passiert ohne Leseförderung?
Teil 5: Wie misst man die Lesegeschwindigkeit (WPM) sinnvoll?
Teil 6: Was sagt ein Lesegeschwindigkeits-Test aus?
Teil 7: Warum liest mein Kind zu langsam?
Teil 8: Wie lesen Leseanfänger?
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