Deutschland 34 : Frankreich 2 – Lineaturen für Schulhefte
Zu Beginn des neuen Schuljahres ist das Schlimmste für viele Eltern – der Einkauf im Schreibwarenladen. Wer mehr als zwei schulpflichtige Kinder hat, weiß, von welchen Odysseen zwischen „Geschichtenheft dritte Klasse doppelt“ und „Kieser-Block erste Klasse beidseitig gelocht mit Kontrastlineatur“ ich spreche. 34 Lineaturen hat alleine Hersteller Brunnen im Sortiment, erhältlich in verschiedenen Formaten, so dass man aus über 90 Heften und Blöcken wählen kann. Es gibt Lineaturen mit gepunkteter oder durchgezogener Mittellinie, mit oder ohne Kontrasthintergrund, Karos von 7×7, 5×7 oder 5×5 mm Größe, Ränder rechts, links, oben, unten, extrabreit, weiß oder bedruckt, und noch vieles mehr. Ein deutscher Sonderweg, wie so häufig, und wie so häufig auch einer, der offenbar kaum hinterfragt wird. Wer sich nicht mehr auskennt, findet auf dieser Seite einen Wegweiser durch die Lineaturen.
Finanzschwachen Familien wird durch die idiosynkratische Forderung nach ganz speziellen Lineaturen das Leben zusätzlich schwer gemacht. Schließlich gibt es bei den gängigen Discountern völlig adäquate Hefte in Grundschullineaturen sowie linierte und karierte Hefte für höhere Klassen samt Umschlägen in Grundfarben (transparent, gelb, orange, rot, grün, blau) für sehr wenig Geld zu kaufen. Doch wer sich damit bevorratet, um das Geld lieber in einen guten Füller zu investieren, hat die Rechnung ohne die Schulen gemacht. Statt Umschlägen in Grundfarben wird dunkelbraun, pink oder hellgrün gefordert; die karierten Hefte mit Doppelrand von ALDI bekommt das Kind bisweilen zurück nach Hause – gebraucht würden karierte Hefte mit Umrandung oder ganz ohne Rand, je nach Lehrkraft. Muss das sein?
Unsere französischen Nachbarn sagen: Nein. Das muss nicht sein. Und für ihre Auffassung spricht, dass die französischen Kinder auch mit nur einer üblichen Lineatur flüssig und schön schreiben lernen. Man könnte sogar sagen, dass die französische Lineatur und Einheitshandschrift es den Schülern leichter macht, denn in Deutschland bilden Kinder mittlerweile nicht mehr zuverlässig eine gute Handschrift aus, sondern fallen häufig in der 5. Klasse in die Druckschrift zurück. Schnelles und flüssiges Mitschreiben kann damit nicht gelingen. Allerdings ist diese Entwicklung in erster Linie der uneinheitlichen und unstetigen Schriftdidaktik geschuldet, von der die vielfältigen Lineaturen nur eine Folge sind. Die Lehrkraft Maria-Anna Schulze Brüning unterhält eine äußerst informative und hilfreiche Website mit praktischen Übungen zu diesem Thema.
Französische Schüler und Studenten schreiben auf die sog. Réglure Séyès, eine Lineatur, die seit 1892 in Frankreich beliebt und verbreitet ist und in allen Klassenstufen verwendet wird.
Die einzige verbreitete zusätzliche Lineatur sind 5x5mm Karos zum Rechnen und Zeichnen. Im deutschen Konzept verschwindet jedes Jahr ein Teil der Lineatur, bis in der 4. Klasse nur noch die Lineatur mit einer Grundlinie übrigbleibt und man alles Größenverhältnisse frei beherrschen muss. Das erfordert für jeden Übergang von einer Lineatur zur anderen gesonderte Übungen:
Im Gegensatz dazu schreiben die Franzosen einfach für immer mit Hilfslinien, was die Gewöhnung an gleichmäßige Schrift sehr erleichtert und niemanden stört. Die Lineatur ist genau an die Buchstaben angepasst und sieht auch einen festen Platz für Akzente vor. Alle Buchstaben stehen auf der Grundlinie. Die niedrigen Buchstaben bekommen eine Höheneinheit (a, c, e, i, m, n, o, r, s, u, v, w, x), die Buchstaben d und t steigen in die zweite Höheneinheit auf, und die Buchstaben mit Schleifen (b, f, h, k, l) reichen in die dritte Höheneinheit. Den Buchstaben mit Schwüngen nach unten gehören die zwei Höheneinheiten unter der Grundlinie (f, g, j, p, q, y, z). Das sieht dann so aus:
Liebe Frau Stiehler,
es gibt an der Grundschule meiner Tochter noch eine weitere Variante: Ein sogenanntes Lernbuch. Es ist komplett unliniert. Die kümmerlichen Reste des ehemaligen Schreibunterrichts finden auf den leeren, weißen Seiten dieses Lernbuches statt.
Es handelt sich bei den Einträgen zu einem großen Teil um das Einkleben von Kopien und Fotos (jüngst eine Kopie von „diese 100 Wörter muss ich richtig schreiben können“ – wieso diese 100 Wörter angesichts der dürftigen Rechtschreibleistung in der 3. Klasse nicht wenigstens von Hand aufgeschrieben werden, ist nicht nachvollziehbar) oder um das Erstellen sogenannter Cluster, frei schwebende Assoziationswolken, bei denen man nicht sieht, was Anfang und was Ende ist, und auch sonst nicht viel lesen kann.
Ich bin am Ende mit meinen Ideen und ratlos. Ich schreibe diesen Kommentar, während ich die weißen Seiten des neuen Lernbuchs mit dem Bleistift liniere…
Verzweifelte Grüße
S.
Liebe S.,
herzlichen Dank für Ihren Bericht aus dem Alltag! Ja, es gibt wohl nichts was es nicht gibt. Wenn wir einen Klassensatz linierter Hefte spenden dürfen, lassen Sie es uns wissen 😉 Und Kopf hoch… an der weiterführenden Schule wird es in der Regel besser. Halten Sie durch 🙂
Mit besten Grüßen,
Miriam Stiehler
Liebe Frau Stiehler,
mein Sohn brauchte für die 1. Klasse ein A4 Heft mit extra großen Kästchen, eine ganze Zeile wurde bis Ende des 1. Schuljahres rein geschrieben…
Auch meine Tochter kämpft mit den riesigen Buchstaben in der 1. Klasse, aber ihre Lehrerin lässt viel mehr schreiben. Nur die Ablehnung von Druckschrift kann ich nicht nachvollziehen, meine Kinder lernen wie ich auch die LAS, aber die Großbuchstaben können nicht mal von allen deutschen entschlüsselt werden, international sowieso nicht. Bei einem Schreibschrift x habe ich schon viele verzweifelten sehen. Das absetzen bei einer angepassten Druckschrift empfinde ich nicht schlimm, da es sich nur um minimale Bewegungen des Stiftes nach oben bedeutet (in Steno absolut normal) und ein klecksen bei heutigen Stiften eher selten ist. Ecken sind auch nicht schlimm (siehe Sütterlinschrift), die ganzen Schleifen brauchen auch Zeit. Rechtschreibung fällt einigen Menschen einfacher, wenn das „Wortbild“ (aus Form, Breite und Längen der Buchstaben) in Büchern und Handschrift zusammenpassen (G und K sind der aussprache rund und Eckig, genauso in der Druckschrift, nicht in LAS). Aus Erfahrung kann ich sagen, ohne einen Krampf in der Hand zu bekommen, kann ich eine Klausur in Druckschrift über 19 Seiten schreiben. Und sobald erlaubt habe ich nur noch Karopapier benutzt)
Liebe Grüße
K.