Im Zusammenhang mit dem Gedächtnis sprechen wir häufig von „speichern“ und „Speicherprozessen“. Ein als Speicher gedachtes Gedächtnis ist in seiner Aufnahmekapazität begrenzt, kann also voll sein und nichts Neues mehr aufnehmen oder aber auch leck werden und vorhandene Daten verlieren. Diese Vorstellung entspricht auch recht gut unserem Alltagserleben: In bestimmten Lernsituationen können wir einfach nichts mehr aufnehmen und im Alter suchen wir vergeblich nach vorhandenem Wissen. Dennoch ist diese Vorstellung falsch.

Das Gedächtnis ist keine Festplatte, die irgendwann voll wird

Unser Langzeitgedächtnis funktioniert gerade nicht wie eine Festplatte mit begrenztem Speicherplatz. Es kann niemals voll oder überfüllt sein, sondern je mehr Informationen bereits vorhanden sind, umso mehr neue kann es aufnehmen. Ein reichhaltiges Vorwissen bildet also die beste Grundlage für das Aneignen neuen Wissens und neuer Kompetenzen. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Beim Besuch eines ADAC-Pannenkurses werden die Teilnehmer mit einer Fülle von Informationen über das Auto, seinem Funktionieren und den häufigsten Störungen konfrontiert. An denjenigen, die gerade einmal wissen, wie man das Auto fährt und wo sich der Motor befindet, wird ein Großteil der detailreichen Ausführungen des Kursleiters vorbeirauschen und nur relativ wenig davon „bleibt hängen“. Diejenigen jedoch, die bereits in groben Zügen wissen, wie so ein Auto funktioniert und was seine wesentlichen Bestandteile sind, können eine Vielzahl neuer Einzelinformationen in ihr bereits vorhandenes Wissen einbauen. Sie verfügen über zahlreiche Anknüpfungspunkte, an denen sie die neuen Wissenselemente andocken können.

Begrenzt sind die Aufnahmekanäle, nicht der Speicherplatz

Unser Langzeitgedächtnis ist also in seiner Kapazität unbegrenzt. Limitiert sind dagegen unsere Aufnahmekanäle. Sie vermögen nur eine bestimmte Menge an Informationen in einer bestimmten Zeit aus den Sinnesorganen ins Gehirn zu transportieren. Ihre Überlastung, nicht ein Mangel an Speicherplatz im eigentlichen Langzeitgedächtnis, löst manchmal das Gefühl aus, es könne nichts Neues mehr gespeichert werden. Das merkt z.B. der Abiturient, der nach einer langen Lernsession erschöpft ist und nichts mehr aufnehmen kann. Am nächsten Tag ist er gut erholt und kann auch den übrigen Stoff erfolgreich in sein Gedächtnis integrieren .

Im Alter gehen keine Erinnerungen verloren, es wird nur schwieriger, sie abzurufen

Auch die Annahme, im Alter bekäme unser Gedächtnisspeicher das eine oder andere Loch, durch das dann vorhandene Informationen hinausfallen und verloren gehen, führt in die Irre. Alles, was durch Konsolidierungsprozesse im Langzeitgedächtnis landet, bleibt dort für immer. Was im Alter allerdings immer schlechter gelingt, ist das Finden oder gezielte Abrufen bestimmter Gedächtnisinhalte.

Einfache und komplexere Gedächtnissysteme

Unser Langzeitgedächtnis ist also in seiner Kapazität unbegrenzt. Ähnlich wie beim Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis lassen sich außerdem viele verschiedene inhaltsabhängige Gedächtnissysteme und -prozesse beschreiben (siehe Abb. 1). So unterscheidet man das deklarative vom prozeduralen Gedächtnis, das semantische vom episodischen, das ereignisbestimmte vom merkmalsbestimmten und das willkürlich-absichtsvolle vom nicht-absichtsvollen, um nur die wichtigsten zu nennen. Diese dichotomen Unterscheidungen sind in sofern pädagogisch und didaktisch bedeutsam, als es bei ihnen jeweils ein früher und ein später entwickeltes System gibt und damit auch ein etwas einfacheres oder eben ein etwas komplexeres. Speicherprobleme im Bereich komplexerer Gedächtnissysteme lassen sich oft unter Rückgriff auf die einfacheren, früher entwickelten kompensieren oder beheben.

Prozedurales und deklaratives Gedächtnis: „gewusst, wie“ und „gewusst, was“

Das deklarative oder Wissensgedächtnis speichert Fakten, Episoden und Daten, während das prozedurale oder Habitgedächtnis Bewegungsfolgen und Regeln festhält. Deklaratives Wissen setzt sich aus Erklärbarem, verbal eindeutig Definierbarem zusammen („gewusst, was“) und ist der bewussten Erinnerung zugänglich. Prozedurales Wissen besteht aus schwer verbalisierbaren Handlungsabläufen, Gewohnheiten, Prozeduren („gewusst, wie“) und ist der bewussten Erinnerung nur schwer zugänglich. Deklarative Inhalte können schlagartig, in einem Durchgang gelernt werden, während prozedurale Inhalte zu ihrer Verankerung im Gedächtnis Wiederholungen benötigen. Deklarativ gespeicherte Fakten weiß man oder man weiß sie eben nicht („Alles-oder-nichts-Prinzip“), während motorische Fähigkeiten wie etwa Fahrradfahren mehr oder weniger gut gekonnt werden.

Das prozedurale ist das ursprünglichere, „primitivere“ Gedächtnis, das beim Säugling bereits vom ersten Lebenstag an funktionsfähig ist, wohingegen sich das deklarative erst später ab dem dritten bis fünften Lebensjahr mit der Sprache langsam entwickelt. Deshalb fallen prozedurale Gedächtnisleistungen oder prozedurale Vorgehensweisen lerngestörten Kindern manchmal leichter, obwohl sie zeitaufwendiger und umständlicher sind. Beim Addieren selbst kleiner Mengen werden beispielsweise immer wieder die einzelnen zu addierenden Mengen tatsächlich ab- und zusammengezählt, ohne dass sich trotz mehrerer Wiederholungen ein und derselben Rechenaufgabe das Ergebnis als deklarativer Gedächtnisinhalt festigen würde. In den Vorstellungen zur Intelligenz, den Intelligenzmodellen spielt das deklarative Gedächtnis schon immer eine wesentliche Rolle und wird als zentraler Gedächtnisfaktor angeführt. Entsprechend finden sich in Intelligenztests in der Regel auch Wissensfragen und Merkaufgaben.

Episodisches und semantisches Gedächtnis: Persönliche Erlebnisse und gelerntes Weltwissen

Innerhalb des deklarativen Gedächtnisses wird weiterhin zwischen semantischen und episodischen Prozessen differenziert. Das episodische Gedächtnis verarbeitet und speichert Informationen, die sich auf eigene Erlebnisse und Erfahrungen beziehen. Es ist somit eher autobiografisch angelegt und strukturiert Fakten individuumspezifisch nach Ort, Zeit und Situation. Demgegenüber besteht das semantische Gedächtnis aus allgemeinen Kenntnissen, Wissen um die Welt und um generelle Zusammenhänge. Dieses Weltwissen einer Person ist nicht zeitlich, sondern konzeptuell miteinander verbunden und organisiert. Ordnung entsteht hier, indem Fakten zu Oberbegriffen wie Schule, Reisen, Essen usw. zusammengefasst werden. Das semantische Gedächtnis versammelt unter dem Thema Reisen zum Beispiel Begriffe wie Koffer, Reisepass, Flugtickets, Hotel buchen…, während das episodische Gedächtnis Informationen eng miteinander verknüpft, die darüber Auskunft geben, wann, in welcher Reihenfolge und mit wem bestimmte Reiseziele besucht wurden. Ein Großteil des in der Schule erworbenen Wissens ist im semantischen Gedächtnis abgelegt.

Das Déjà-vu: Ein Fehler im episodischen Gedächtnis

In diesem Zusammenhang lässt sich gut erklären, wie Déjá-vu-Erlebnisse zustande kommen. Von Déjá-vu-Erlebnissen spricht man, wenn man in eine neue Situation hineinkommt und sich absolut sicher ist, dass man diese Situation schon einmal erlebt hat. Sie kommt einem bekannt vor, obwohl man sie tatsächlich zum ersten Mal erlebt. Solche Erlebnisse entstehen, wenn dem episodischen Gedächtnis ein kleiner Fehler unterläuft und es das neue Erlebnis nicht ans Ende der Zeitreihe einordnet, sondern irgendwo vorher.

Ereignisbestimmtes und merkmalsbestimmtes Gedächtnis: Vom selbst-erleben-müssen zum sich-vorstellen-können

Klix (1984) unterscheidet zwei weitere Arten der Wissensspeicherung, die für die Arbeit mit lernbeeinträchtigten Kindern interessant sind. Säuglinge und Kleinkinder sammeln zunächst durch ständige sensomotorische Erfahrungen ein breites Repertoire an ereignisbestimmtem Wissen. Aus der praktischen Lebenserfahrung heraus speichert das Kind ohne jegliche Speicherabsicht Fakten, die eingebettet sind in eine erlebte Alltagssituation. Dies beinhaltet emotionale Verankerung genauso wie begriffliches Ordnen und Kategorisieren. Durch die fortschreitende Sprachentwicklung kann sich aus dem Repertoire an ereignisbestimmtem Wissen eine zweite Art der Wissensaufnahme entwickeln, die herausgelöst ist aus dem handelnden Erfahren: das merkmalsbestimmte Wissen. Allein über die sprachliche Kommunikation wird ereignisbestimmtes Wissen ausgetauscht und modifiziert, wodurch eine vergleichende, schlussfolgernde, logische und schließlich auch mathematische geistige Tätigkeit ohne handelndes Umgehen mit der dinglichen Umwelt entsteht. Mittels dieses merkmalsbestimmten, abstrakten, nicht aus eigener Erfahrung abgeleiteten Wissens weiß ein blind geborenes Kind, dass das Meer blau oder sein eigenes Haar blond ist. Die praktische Handlung und damit das ereignisbestimmte Sammeln von Wissen bleibt während der gesamten Kindheit Mittel der Erkenntnis vor allem bei jenen Erscheinungen der Wirklichkeit, die vom Kind noch nicht sofort und komplett auf geistiger Ebene erfasst werden können. Dieser Entwicklung vom ereignis- zum merkmalsbestimmten Wissen folgt auch unser Bildungssystem. Im Kindergarten wird fast ausschließlich spielerisch-handelnd gelernt, an der Universität sitzen die Studierenden im Hörsaal und folgen den verbalen Ausführungen ihres Professors in der Vorlesung.

Vielen Kindern mit Lernbeeinträchtigungen fällt es schwer, an Sprache gebundene Abstraktion mit- und nachzuvollziehen und sie brauchen zum Verstehen der Welt, zum Aufbau von Begriffen und Wissen länger als andere das handelnde Umgehen mit den Dingen der Umwelt. Gelingt beispielsweise eine Rechenoperation mit abstrakten Zahlen und Operationszeichen nicht, hilft in der Regel die praktische Ausführung einer entsprechenden anschaulichen Handlung. Die Schulkinder gehen dann zum Beispiel noch einmal im Rollenspiel einkaufen. Stehen merkmalsbestimmte Gedächtnisinhalte nicht zur Verfügung, kann also unter Umständen auf ereignisbestimmte zurückgegriffen werden, um den Mangel zu kompensieren.

Willkürlich-absichtsvolles und nicht absichtsvolles Gedächtnis: gezielt pauken oder nebenbei lernen

Ein bewusst-willkürlich-absichtsvolles Lernen mit den entsprechenden Gedächtnisprozessen ist klar zu trennen von einem unwillkürlichen, nichtabsichtsvollen Sammeln von Erfahrungen. Schülern wird meist abverlangt, dass sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt gezielt ganz bestimmte Inhalte einprägen und dass das so Eingeprägte ebenfalls willkürlich-absichtsvoll, auf eine Frage hin zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt wieder abgerufen wird. Andererseits ist jedem das Phänomen bekannt, dass man zum Beispiel am Morgen beim Aufstehen oder Frühstücken im Radio ein Lied hört und sich irgendwann am Tag beim Summen oder Pfeifen der frühmorgens gehörten Melodie ertappt. Ohne Absicht und beiläufig wurde der Inhalt aufgenommen und ebenso beiläufig und unwillkürlich ist auch das Erinnern daran. Das willkürlich-absichtsvolle Einprägen und Abrufen muss im Gegensatz zum nicht absichtsvollen erst gelernt werden und entwickelt sich demzufolge auch erst zu einem späteren Zeitpunkt. Auch hier kann das „einfachere“ nichtabsichtsvolle Gedächtnis beim nicht Funktionieren des bewusst-absichtsvollen aushelfen. Ein Lehrer fragt beispielsweise eine Schülerin gezielt nach einem spezifischen Sachverhalt, der dieser im Moment nicht einfällt. Nach dem Hinweis des Lehrers, das sei nicht schlimm, es falle ihr bestimmt später wieder ein und dann könne sie es ihm ja sagen, vergisst die Schülerin die Frage des Lehrers, erinnert aber nach einiger Zeit ohne Suchabsicht die vom Lehrer gewünschte Antwort. Oder man hört am Morgen beim Frühstücken ein Lied im Radio und ertappt sich einige Stunden später beim Summen der „Frühstücksmelodie“. Wäre man nach dem Lied gefragt worden, das während des Frühstücks im Radio lief, hätte man mit großer Wahrscheinlichkeit keine Antwort geben können. Lernmethoden, die besonders auf das beiläufige, nicht absichtsvolle Lernen setzen, müssen deshalb stärker mit Problemen im gezielten Abrufen rechnen als diejenigen, die willkürliches und absichtsvolles Lernen fordern.

In der einschlägigen Fachliteratur werden noch eine Reihe weiterer Gedächtnisprozesse angeführt. So zum Beispiel das prospektive Gedächtnis, das in die Zukunft weist und uns in die Lage versetzt, an Dinge zu Denken, die erst in den nächsten Stunden, Tagen und Wochen statt finden werden; oder das Quellengedächtnis, das zusätzlich zu den Informationen auch noch festhält, woher wir diese Informationen haben, und so weiter und so fort.

Dieser Text und Ihr Gedächtnis

Je nachdem, was Ihr Fachgebiet und damit Ihr Vorwissen ist, konnte dieser Text bei Ihnen an mehr oder weniger vorhandenen Verbindungspunkten andocken. Sie können sich über den Text nun mit Freunden und Kollegen unterhalten, ihn exzerpieren oder Schlüsselstellen tweeten, um ihn für sich persönlich zu verarbeiten. Er beliefert hauptsächlich Ihr deklaratives Gedächtnis, weniger das prozedurale; letzteres können Sie aber sehr gerne einsetzen, um ein Like zu hinterlassen, ihn mit Sternen zu bewerten und auf Facebook zu teilen – lauter Vorgänge, deren „gewusst wie“ Ihr prozedurales Gedächtnis speichert. Auch dient der Text primär Ihrem semantischen Gedächtnis; im episodischen speichern Sie, wer Sie im Café angelächelt hat, als Sie gerade auf dem Smartphone diesen Text lasen. Da leider die Reise durch den Körper im Nano-Uboot noch immer nicht möglich ist, wird das hier enthaltene Wissen über das Gedächtnis bis auf Weiteres primär Ihrem merkmalsbestimmten Gedächtnis zugänglich sein; eigene Erfahrungen wie Déjà-Vus hingegen können durchaus über das ereignisbestimmte Gedächtnis mit dem Wissen aus diesem Text verknüpft werden. Wieviel Sie sich nun beim Lesen unabsichtlich merken und ob Sie zu Ihrer persönlichen Fortbildung einige Inhalte aus diesem Text absichtlich einprägen – das bleibt nun wirklich ganz Ihnen überlassen. An Speicherplatz wird es Ihnen aber, wie Sie nun wissen, nicht mangeln.

Literatur

Breitenbach, E. (2014): Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer

Breitenbach, E. (2019): Vom Behalten zum Erinnern – Wie funktioniert unser Gedächtnis? In: behinderte Menschen 42, (Heft 4/5), S. 51-58

Klix, F. (1984): Gedächtnis – Wissen – Wissensnutzung. Berlin: Verlag der Wissenschaften