Irrtum Anschaulichkeit: Man sieht nur, was man weiß
Der Globus macht die Welt „anschaulich“ – aber nur für die, die schon wissen, was er darstellt. „Anschaulich machen“ als Lehrstrategie setzt voraus, dass der Schüler die zum Verständnis nötigen Begriffe und Denkstrukturen schon besitzt. Deshalb versagt das bloße „Veranschaulichen“ als Fördermaßnahme bei rechenschwachen Kindern: Ihnen fehlen die nötigen Denkstrukturen. Teil 4 von Michael Gaidoschicks Reihe zum Thema „Wege und Irrwege in der Rechenförderung“.
Vom unserem Kollegen Prof. Dr. Michael Gaidoschik aus Österreich.
Irrweg Nummer 4: Alles möglichst anschaulich machen!
Wie schon beim Material: Auch Anschauungen, bildliche Darstellungen mathematischer Sachverhalte, sprechen nicht für sich. Anschauen ist eine aktive Leistung des Individuums. Wir sehen in gewisser Weise immer nur das, was wir schon wissen.
Bleiben wir beim Beispiel 8 – 5: Wenn ich bereits weiß, dass 8 aus 5 und 3 zusammengesetzt ist, dann kann ich in einer strukturierten Darstellung (Zehnerraster mit 5 Punkten oben, 3 Punkten unten) mit einem Blick 8 Punkte erkennen. Habe ich dazu auch noch die Operation des Wegnehmens verstanden, dann kann ich gewissermaßen sehen, dass 8 – 5 3 ergibt. Weiß ich allerdings nicht, dass 8 aus 5 und 3 zusammengesetzt ist, dann muss ich bereits die Gesamtzahl der Punkte auf dieser Abbildung zählend ermitteln; und auch die Lösungsfindung kann – sofern ich dafür nicht lieber doch auf die Finger zurückgreife – nur durch Abzählen der Punkte erfolgen. Also auch hier: Das bloße Anschauen löst das Problem nicht, an dem rechenschwache Kinder laborieren, eher im Gegenteil: bestimmte Materialien wie etwa der durchnummerierte Zahlenstrahl werden Kinder eher dazu verführen, zählende Strategien anzuwenden, als über Zahlzusammenhänge nachzudenken.
Irrweg Nummer 5: Gedächtnis soll Verständnis ersetzen
Spätestens dann, wenn scheinbar alles versucht wurde und nichts den erwünschten Erfolg hatte, kommt möglicherweise eine andere Variante der „Förderung“ ins Spiel: Es müsste doch zu machen sein, so die Hoffnung, dass ein Kind sich zumindest im niedrigen Zahlenbereich die Plus-, Minus- und Zerlegungsaufgaben, die es da so gibt, auswendig merkt – ob es nun verstanden hat, worum es dabei geht oder nicht.
Dazu ist zweierlei zu sagen:
Erstens zeigt die Erfahrung, dass das eben sehr oft tatsächlich nicht zu machen ist, auch nicht bei noch so viel Übung. Es ist ja auch keine geringe Aufgabe: Es gibt alleine im Zahlenraum bis 10 nicht weniger als 66 verschiedene Additionen und ebenso viele verschiedene Minusaufgaben. Es gibt 36 verschiedene Arten, die Zahlen von 2 bis 9 in zwei Teilportionen zu zerlegen. Es ist nicht unmöglich, aber tatsächlich sehr schwer, sich diese 168 Einzelfakten auswendig zu merken; und Einzelfakten sind es tatsächlich, wenn ein Kind Zahlen und Rechenoperationen nicht ausreichend verstanden hat. Für uns folgt aus 5 + 3 = 8 natürlich auch, dass 8 – 5 = 3. Für ein rechenschwaches Kind folgt dies, aufgrund seines Verständnisses von Zahlen, gar nicht. Es müsste sich also beide Rechnungen jeweils für sich merken; in Summe eben 168 Rechnungen allein im Zahlenraum 10. Wenn das nicht gelingt, sollte man nicht über ein „schwaches Gedächtnis“ klagen. Und es sollte einem mehr dazu einfallen als einfach nur: Dann müssen wir halt noch mehr üben!
Zweitens aber: Das Auswendigmerken ohne Erkennen und Verstehen von Zusammenhängen klappt bei manchen Kindern tatsächlich. Das sind jene rechenschwachen Kinder, die über eine außergewöhnliche Merkfähigkeit verfügen und wohl auch über einen beachtlichen Willen; denn Wille und Fleiß braucht es, um sich dutzendweise Zahlenkombinationen zu merken, deren Sinn man nicht so recht versteht. Aber gänzlich unmöglich ist es nicht.
Darum gibt es eben auch rechenschwache Kinder, die nicht (oder nicht mehr) zählend rechnen. Das heißt aber nicht, dass sie keine Probleme im Umgang mit Zahlen hätten: Sie scheitern dann zum Beispiel am Verständnis unseres Stellenwertsystems, stoßen sich nicht daran, wenn bei einer schriftlichen Subtraktion mehr rauskommt als vorher da war, finden keinen Zugang zur Lösung von mathematischen Sachproblemen und vieles mehr.
Also: Auswendigmerken kann das Problem Rechenschwäche nicht lösen; und Kindern ist nicht langfristig damit geholfen, wenn man sich mit ihnen auf diesen Weg begibt.
Dieser Artikel ist der vierte Teil einer Reihe. Sie finden alle Artikel der Reihe wahlweise unter den Schlagworten „Wege“ und „Irrwege“ oder über diese Links:
- Teil 1: Rechenschwache Kinder dadurch fördern zu wollen, dass man sich nicht mit dem Rechnen beschäftigt
- Teil 2: Warum mehr üben rechenschwachen Kindern nicht hilft
- Teil 3: Rechenmaterial – aufs Denken kommt es an
- Teil 5: Keine sinnvolle Förderung ohne Fehleranalyse!
- Teil 6: Rechenschwäche: Neuaufbau tut Not
- Teil 7: Lernmaterial: Leiter, nicht Krücke
Autor und Rechteinhaber des obigen Textes: Michael Gaidoschik.