Mathematik ist klar, eindeutig und unemotional – der Supergau der überindividualisierten Gesellschaft. In der Mathematik gibt es kein „Ich empfinde es aber so und so“. Hier kann man sich nicht durchquatschen, sondern sich höchstens um Kopf und Kragen reden. Es gibt ein klares Richtig und Falsch. Das wird heute nicht gern gesehen. Die Ursachen hierfür kann man nur historisch und philosophisch erklären. Die philosophischen Hintergründe hierzu füllen Dutzende Seiten, aber ich versuche, sie hier möglichst knapp zusammenzufassen:

Ein 3000 Jahre alter Kunstgriff

Die auf Platon, Hegel und Marx beruhende, tendenziell totalitäre Ideologie des „Idealismus“ war ursprünglich ein Gegner des Individualismus, den Rationalisten wie Karl Popper vertraten. Die „Idealisten“ benutzten gern folgende zwei Kniffe, um ihren individualistischen Gegner in ein schlechtes Licht zu rücken (vgl. Popper, Karl 1957/1992, S. 120ff.):

A) Totalitäre Gleichmacherei (Kollektivismus) wurde als altruistischer Akt der Gemeinschaftspflege dargestellt. Die Grenze zwischen Rücksichtnahme oder „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ und fragloser Unterordnung unter die herrschende Ideologie wurde bewusst verwischt: Wer seine eigenen Rechte beschneiden lässt, gilt als rücksichtsvoll.

B) Individualismus wurde mit Egoismus gleichgesetzt: Wer beansprucht, dass man ihm Freiräume lasse und auf ihn als Individuum Rücksicht nehme (und weniger auf die Glaubenssätze der erleuchtet Herrschenden / das Wirken der Vorsehung / den Volkskörper), gilt als Egoist.

Im Lauf der Zeit dämmerte aber den marxistisch und hegelianisch geprägten deutschen Geisteswissenschaftlern, dass sie gerade im Hinblick auf das Dritte Reich den Individualismus befürworten mussten: Schließlich wäre ohne eine Art von Individualismus kein Widerstand, keine aufrechte Haltung möglich gewesen, und auch die prägende Generation der 68er verstand sich als höchst individualistisch. Simon Ingold formuliert das so: „Es gibt vermeintliche Gewissheiten, die einem so penetrant eingetrichtert werden, dass man sie kaum hinterfragt. Eine dieser Gewissheiten besagt, dass Individualismus die Grundlage einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung sei. Dem Individualisten, der kritisch denke und unabhängig handle, so das Argument, fliesse demokratische DNA durch die Adern. Als unermüdlicher Kämpfer für Selbstverantwortung und Autonomie bilde er den Nukleus des Widerstands gegen kollektivistische Übergriffe jeder Art.“ (Dies hat auch Popper so gesehen, vgl. Popper, Karl 1957/1992, S. 122f.).

Tut alle das Gleiche – aber wehe man diskrimiert Euch, weil ihr anders seid!

Die einflussreichen, seit den späten 60er Jahren vorwiegend hegelianisch-marxistischen Geisteswissenschaftler in der deutschen Pädagogik mussten daher gleichzeitig Individualismus befürworten und das kollektivistische Erbe ihrer philosophischen Herkunft bewahren. Solche logisch unvereinbaren Standpunkte zu vertreten, erzeugt mindestens kognitive Dissonanz (und wirkt nach außen überaus unglaubwürdig, aber das fällt erstaunlich selten jemandem auf). Vielleicht liegt es daran, dass inzwischen eine Art Ideologiegebäude geschaffen wurde, das darüber bestimmt, wann man individualistisch und wann kollektivistisch zu argumentieren hat. Dieses Ideologiegebäude scheint mir die gesamte deutsche Bildungspolitik am Leben zu erhalten (und nicht nur diese…). Es besagt:

Individualismus fordern dürfen Gruppen, die sich aufgrund bestimmter Eigenschaften benachteiligt fühlen. Diese Eigenschaften müssen solche sein, die im Faschismus und/oder der Geschichte der christlichen Kirchen negativ gesehen wurden. Außerdem müssen diese Eigenschaften in einem gewissen Antagonismus zu den Begriffen rationaler Verstand, Männlichkeit oder Leistungsprinzip stehen. Dazu gehören Menschen mit sexuellen Abweichungen jeder Art, mit Behinderungen oder seelischen Erkrankungen im weitesten Sinne, Empfänger von Transferleistungen, wenig gebildete Einwanderer und das weibliche Geschlecht. Wer Individualismus aufgrund von Werten fordert, die konservativen und rationalistischen Werten widersprechen, ist kein Egoist, sondern ein armer Unterdrückter.

Individualismus nicht beanspruchen dürfen in dieser Gedankenwelt konservative Familien, Hochbegabte, durch eigene Leistung zu Reichtum gelangte Firmeninhaber, leistungsorientierte Einwanderer oder Männer. Besondere Bauchschmerzen bereiten Kombinationen dieser Merkmale wie leistungsorientierte wertkonservative männliche Unternehmer.

Das Kollektiv hingegen gibt den Ton an, wenn platonistisch, hegelianisch oder marxistisch begründbare Werte auf dem Spiel stehen, insbesondere dann, wenn ein Politiker in der Tradition des platonistisch „intuitiv schauenden“ Philosophenkönigs eine „Vision“ für „die Gesellschaft“ hat. Der individuelle Bürger hat sich dem Kollektiv unterzuordnen wenn es um „die Natur“, Geschlechterquoten, „Toleranz“ (vor allem gegenüber der o.g. ersten Gruppe von Individuen) oder „die Gesellschaft“ geht.

Kollektivismus ist hingegen negativ besetzt, wenn er im Umfeld von Begriffen wie „Normalität“, „Tradition“ oder „Allgemeinbildung“ auftritt.

Halten Sie durch – der Bezug zur Mathematik naht.

Demokratische Rationalisten wie Karl Popper oder Karl Jaspers haben unter Individualismus die Entwicklung starker Persönlichkeiten verstanden, die sich selbstbewusst, aber taktvoll aufgrund klar ausgeprägter Wertvorstellungen und sachlicher Argumente von der gesellschaftlichen „Masse“ abgrenzen. Das, was heute als angeblich „Offene Gesellschaft“ dargestellt wird, ist in wesentlichen Punkten das Gegenteil von Poppers „Offener Gesellschaft“ bzw., im Originaltitel, seiner „Open Society“. Als Popper „The Open Society and its Enemies“ verfasste, sah er nicht kommen, wie ausgerechnet die von ihm kritisierten Anhänger Adornos und Marxens den Individualismus kapern und als Konzept missbrauchen würden. Simon Ingold beschreibt treffend, was heute daraus geworden ist:

„Tatsache ist, dass der heute praktizierte Individualismus seine Identität und Existenzgrundlage nicht aus einer inneren Überzeugung gewinnt. Er definiert sich vielmehr via Konfrontation und Ablehnung. Eine Ablehnung, die sich gegen jeden und alles richten kann, besonders oft aber auf den Staat und seine Organe abzielt. Der Obrigkeitshass militanter Selbstbestimmungsfanatiker nimmt denn auch immer düsterere Züge an.“ (Ingold, ebd.)

Überraschung: Hier sind wir, schwupps, beim Anknüpfungspunkt zur Mathematik.

Mathematik ist nämlich die geistige Obrigkeit schlechthin. Mit ihr kann man nichts diskutieren außer Kurven. Der Lehrer als Vertreter der Obrigkeit ist schon Feindbild genug – der Mathematiklehrer als Vertreter der staatlichen und intellektuellen Obrigkeit ist der ultimative Feind für jeden, der sich nicht gerne zeigen lassen möchte, was er definitiv und undiskutierbar falsch gemacht hat. Wo er gegen Regeln verstoßen hat. Mathematik ist, mehr noch als jede Fremdsprache, voller eiserner Regeln. Und in einer Gesellschaft, die nur noch ganz bestimmte Regeln akzeptieren möchte und am liebsten nur die, die sie selbst erdacht hat, ist Mathematik ein Stachel im Fleisch. Heutige egoistische, beinahe schon hedonistische „Individualisten“ stört das, was Aebli noch als Gegensatz zur rein äußerlichen Disziplin Kerschensteiners lobte: „es gibt eine Disziplin, die jeder Aktivität … innewohnt, wenn sie ein gewisses Niveau der Vollkommenheit erreicht hat. Die Zucht des logischen Denkens ist ein Beispiel dafür. Sie verdankt ihre Strenge nicht einem äußerlichen Prinzip der Genauigkeit, sondern ihrer innerlich zusammenhängenden … Struktur“ (Aebli 1976, S. 51).

Denn egal wie ein Politiker gerade fühlt oder argumentiert – keine Kultusministerkonferenz kann ändern, dass die 7 eine Primzahl ist und die 8 nicht. Mathematik ist mächtig. Mathematik scheidet in richtig und falsch. 5 + 2 = 8 ist nicht „fast richtig“, es ist genauso falsch wie 5 + 2 = 16724. Und das möchte sich der moderne Student nicht bieten lassen, für den doch das „dialektische Argumentieren“ im Zentrum der Ausbildung stand. Das möchten sich auch moderne Eltern nicht bieten lassen, die mit dem Credo gefüttert wurden, jedes Kritzelbild sei Kunst, jede Knetfigur ein per se wertvoller Ausdruck der Persönlichkeit – da kann man doch nicht so einfach einen Fehler anstreichen, da muss doch noch etwas zu würdigen sein! Man hat inzwischen die „Schutzwürdigkeit individueller Freiheit immer weiter aus[ge]dehnt und damit hyperspezifisch [ge]macht. Dazu gehört die Forderung nach einem dritten Personalpronomen für Transgender genauso wie die Einführung von «safe spaces» für konfliktscheue junge Menschen, die keine Kritik vertragen.“ (Ingold, ebd.)

Das ist so gekommen, weil der Begriff des „Individualismus“ hohl und leer geworden ist.

„Margaret Thatcher verkündete in den 1980er Jahren mit grösster Selbstverständlichkeit, dass es so etwas wie «die Gesellschaft» gar nicht gebe. Die einzig relevante Grösse war für sie der oder die Einzelne.“ (Ingold, ebd.)

Wohin das führen würde, war damals noch nicht abzusehen, denn: „Damit war auch eine Erwartung verknüpft: Wer für sich alleine in der Welt steht bzw. stehen darf, ist moralisch verpflichtet, das Beste aus sich zu machen.“ Doch von „dieser romantischen Vorstellung, die auf dem Denken von Wilhelm von Humboldt, John Stuart Mill und Herbert Spencer aufbaut, sind wir heute meilenweit entfernt. Nicht etwa weil der Individualismus gefährdet wäre, wie libertäre Querulanten lauthals verkünden, sondern weil er ausser Rand und Band geraten ist.

Anzeichen dafür gibt es überall. Personalisierung und Individualisierung sind Trumpf, ob beim massgeschneiderten T-Shirt oder beim Sex-Toy. Natürlich handelt es sich dabei um eine reine Illusion. Die Behauptung, dass ein Konsumgegenstand zur Individualität seines Käufers beitrage, ist der älteste Marketingtrick der Welt. Dass er immer noch funktioniert, spricht für die Finesse der Werbestrategen, nicht aber für die Selbstwahrnehmung der Konsumenten. Sie geben sich der Illusion, anders zu sein, noch so gerne hin und verteidigen diesen Status auf überheblich-aggressive Art.“ (Ingold, ebd.)

Wir leben in einem Konsumzeitalter. Die Propaganda, die Hans Aebli bereits 1964 in ihren Auswirkungen beobachtete, hatte vollen Erfolg: Wir glauben, jeder sei besonders, jeder sei kreativ, und das Nachvollziehen vorhandenen Wissens sei nichts wert, da nicht Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Mathematik wiederum ist weitestgehend frei von Neuerungen (von extrem seltenen Beweisen schwerst verständlicher offener Fragen abgesehen). Mathematik ist, und man kann sie nur beherrschen, indem man Gedanken nachvollzieht, die Menschen teils vor Jahrtausenden erstmals gedacht haben (man erinnere sich an Pythagoras oder Euklid). Wer sich dafür zu fein ist, hat in Mathematik ganz schlechte Karten.

Es dürfte jedenfalls noch lange dauern, bis ein deutscher Fernsehmoderator den selben Applaus bekäme wie der Brite Graham Norton für seinen Position zum „Aktivisten“ Trenton Oldfield, der aus „Protest gegen Elitismus“ das Bootsrennen der Uni-Mannschaften von Oxford und Cambridge sabotierte. Norton’s Kommentar dazu: „Da ist wohl jemand durchs Abitur gefallen!“ (ab 2:00 im Video)…

Die Beitragsreihe über die sozialpolitischen Ursachen der „Entkernung“ unseres Mathematikunterrichts gehört zu unserer umfassenden Mathe-Reportage und hat 4 Teile.

Nerds und Streber – die Wurzel allen Übels (Teil 1/4)

Sie befinden sich hier: Mathe passt nicht zur überindividualisierten Gesellschaft (Teil 2/4)

Die Besten in Mathe sind intelligente Jungs. Pfui! (Teil 3/4)

Das Leben sei ein Ponyhof! (Teil 4/4)

Das gesamte Dossier über den Niedergang des Mathematikunterrichts wird hier vorgestellt:

Literatur

Aebli, Hans (1976): Psychologische Didaktik. Didaktische Auswertung der Psychologie von Jean Piaget, Stuttgart: Klett, 6. Auflage 1976

Popper, Karl ( 1957/1992): Popper, Karl: Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 1: Der Zauber Platons. Mohr, Tübingen 1992.