Mein altes Mathebuch war besser!
Ich habe nicht nur beruflich mit Didaktik zu tun. Ich habe auch drei, bald vier Kinder am Gymnasium. Dadurch erlebe ich täglich, welche frustrierenden Folgen die moderne „Kompetenzorientierung“ des Unterrichts für Schüler hat. Am meisten enttäuschen mich dabei die aktuellen Mathebücher. Wenn mir nach dem Abitur jemand erzählt hätte, dass ich freiwillig 22 Jahre später alle meine Lehrbücher aus den 80er und 90er Jahren nocheinmal kaufen würde, hätte ich meinen Radiergummi nach ihm geworfen. Ich war früher kein begeisterter Mathe-Schüler. Doch sag niemals nie: Die Bücher meiner eigenen Kinder sind so frustrierend, dass ich mittlerweile froh und dankbar alle Bände „Titze Walter Feuerlein“ wieder mein eigen nenne.
Diese recht persönliche Beobachtung war der Anlass zu einer Artikelreihe, die sich im Lauf des Jahres 2020 zum bisher größten Projekt dieses Blogs entwickelt hat. Dieser Artikel ist der Ursprung und gleichsam der Kern dieser Reportage: Wir stellen Mathebücher von 2020 und 1980 gegenüber, um exemplarisch die Symptome eines verschlechterten Mathematikunterrichts zu erklären. (Wir zeigen hier die alte Ausgabe von Walter/Feuerlein, es gibt eine neuere aus den frühen 2000ern, die noch vielfach erhältlich ist, z.B. hier.)
Die Hintergründe dieses Problems klären andere Artikel – hier geht es ganz konkret um drei didaktische Fehlentwicklungen. Sie sind sozusagen die Leitsymptome, an denen der moderne Mathematikunterricht krankt:
- Man konzentriert sich auf rein äußerlichen „Schnickschnack“ und vernachlässigt die Inhalte. Bücher werden immer bunter und unruhiger in der graphischen Gestaltung. Zugleich mangelt es aber an didaktischem Niveau und fachlicher Substanz (ein Problem der gesamten heutigen Didaktik).
- Unter dem Namen „Kompetenzorientierung“ wird ein lernpsychologischer Irrtum als moderne Neuerung verkauft. Irrig ist der Gedanke, Sachaufgaben würden das Lernen stets im Sinne von „Anschaulichkeit“ und „Handlungsorientierung“ erleichtern. Daraus folgt die Unsitte, fächerübergreifende Inhalte nicht in Physik, Chemie, Geographie etc. zu behandeln, sondern im Mathematikunterricht. Die pure Mathematik wird dabei vernachlässigt. Das verschleiert nicht nur das Wesen des Faches. Es macht es den Schülern auch schwerer, das echte mathematische Handwerkszeug wie z.B. euklidische Beweise oder die Sprache der Mathematik beherrschen zu lernen.
- Übung und Wiederholung werden heutzutage verachtet. Selbstbewusste Routine kann so unmöglich entstehen. Darüber haben wir schon viel berichtet, z.B. in Bezug auf Rechtschreibung, Handschrift, Leseflüssigkeit und Vokabeln. Mathematik ist ein sehr anspruchsvolles Fach. Schüler brauchen hier besonders viel Übung, um sich entspannt und sicher zu fühlen. Aber genau das ist mit den aktuellen Schulbüchern praktisch unmöglich, selbst für gutwillige Schüler.
1) Außen Hui, innen Pfui
Betrachten wir zum Einstieg zwei Seiten eines Mathebuchs für die 7. Klasse Gymnasium, beide zum selben Thema. Es handelt sich einmal um den Band „Algebra 1 bsv Mathematik“ für die 7. Klasse Gymnasium von 1980 sowie um das Buch „Lambacher Schweizer Mathematik 7“ für Gymnasien, in Verwendung seit 2006.
Selbst ein Laie sieht auf den ersten Blick den großen optischen Unterschied zwischen beiden Büchern: Das alte kommt ressourcenschonend schwarz-weiß daher. Gelegentlich ist etwas rot oder blau unterlegt. Bilder gibt es keine, nur die notwendigen geometrischen Illustrationen; die sind auch, wo nötig, farbig gestaltet.
Das neue Buch hingegen ist nicht nur so bunt wie es früher höchstens unsere Biologiebücher waren. Es überbietet sich regelrecht selbst mit seiner Abbildungsvielfalt: aquarellierte Illustrationen, Farbfotos, Vektorgraphiken, Schaubilder, Fake-Werbeanzeigen, Screenshots aus Computerprogrammen… Es sieht aus, als hätte das Graphikprogramm auf die Seiten geniest.
Und nichts davon stellt wirklich eine Hilfe dar. Man denke an einen Schüler, der nicht besonders gut oder gerne rechnet. Hilft es ihm, wenn die Textaufgabe „Wieviele Tafeln Schokolade kauft Gerald von jeder Sorte?“ mit den erfundenen Schokoladenmarken „Alpenglück“ und „Sportfit“ illustriert ist? Erleichtern solche Bilder das Rechnen? Oder wird das Distributivgesetz auch nur ein kleines bisschen verständlicher, wenn die Lösungen der Hausaufgabe in einem grünen „Lösungssalat“ versteckt sind?
Geld, Zeit und vor allem geistiger Aufwand werden für solche Nebensächlichkeiten verwendet – aber die Aufgaben, die es zu rechnen gibt, sind in keiner Weise elegant oder schülerfreundlich durchdacht. Es fehlen geschickt variierte kleine Unterschiede, elegant gewählte Faktoren, Rechnungsketten mit Aha-Erlebnis.
Wozu das alles? Man bildet sich ein, die bunte und ablenkende Gestaltung der Arbeitsmaterialien sei ein Beitrag zu besserem Unterricht. Doch bei genauer Betrachtung wird klar, wie die Erarbeitungen erschwert werden. Man merkt, dass es an Übungen in aufsteigender Schwierigkeit fehlt, die motivierende Fortschritte ermöglichen würden. Die bunte Gestaltung kann nicht darüber hinwegtäuschen: Es fehlt unter der modernen Hülle an didaktischer Substanz.
2) Mathematik ist eine Sprache, die das Unsichtbare beschreibt
Ironischerweise war ich froh, Mathematik zugunsten von Französisch und Englisch im Abitur links liegen lassen zu dürfen: Sprachen lagen mir schon immer mehr. Doch selbst ich muss zugeben, dass auch Mathematik eine Sprache ist. Und zwar eine Sprache, die das Unsichtbare beschreibt. Man kann es sich ein wenig wie eine Schicht in Google Maps vorstellen: Mathematik hilft uns, eine virtuelle Ebene über die Welt zu legen, die etwas sichtbar macht, was wir uns eigentlich nur denken. Das gilt für Entfernungen, Flächen und Winkel, aber auch für die Feststellung, dass sich in einem Teich dreimal so viele Forellen befinden wie Karpfen. Michael Gaidoschik, der Experte für Rechenstörungen und Mathematikunterricht, hat das schon in einem seiner Gastbeiträge hier erklärt.
Mit der Sprache der Mathematik drückt man Möglichkeiten, logische Notwendigkeiten und Wahrheiten abstrakt aus. Mathematik so „anschaulich“ wie möglich zu machen, geht an ihrem Wesen vorbei.
Ja, man wendet Mathematik in vielen Naturwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften an, um konkrete Probleme zu lösen. Ja, man wendet Mathematik im Alltag an, um beim Kochen, Backen, Nähen, Zaun bauen oder Tapezieren geschickt zu handeln. Ja, man sollte als mündiger Abiturient (oder als Facharzt) eines Tages in der Lage sein, das Risiko eines falsch-positiven Krebsscreenings richtig zu interpretieren.
Mathematik ist ein Multitool, kein Spezialwerkzeug
Aber wir wissen nicht im Voraus, ob ein Schüler später Heizungsinstallateur, Koch, Psychiater oder Geodät wird. Daher ist es nicht hilfreich, sich in der Schule primär auf Anwendungen der verschiedenen Rechenwege zu konzentrieren. Anwendungsaufgaben gehören nicht primär in den Mathematikunterricht, sondern in die entsprechenden Schulfächer: in Physik, in Hauswirtschaft, in Biologie, in Erdkunde. Im Mathematikunterricht lernt man die Grundlagen für alle diese Anwendungsfälle, das ist seine zentrale Aufgabe. Und diese Grundlagen werden im modernen Mathematikunterricht sträflich vernachlässigt. Das sieht man sehr deutlich, wenn Lehrer bei der Erarbeitung eines neuen mathematischen Themas im Unterricht krampfhaft von Anfang an über Sachbezüge sprechen. Das ist gut gemeint, aber es erschwert letztlich für Schüler das mathematische Verständnis, anstatt es zu erleichtern.
Schüler brauchen gute Erklärungen statt bunter Bilder
In dem oben gezeigten Buch von 2020 lautet eine Aufgabe:
„In einem Teich leben dreimal so viele Forellen f wie Karpfen k. Mit welcher Gleichung kann man diese Situation korrekt beschreiben?“
Wird diese Frage einfacher durch hochwertige Farbfotos von Regenbogenforelle und Karpfen? Wird so das abstrakte mathematische Denken in Formeln und Gleichungen gefördert? Was soll ein Schüler mit dem dazu gedruckten Randtext anfangen: „Unterscheidungsmerkmale: vorstülpbares Rüsselmaul, 4 Bartfäden, hoher Rücken“? Glaubt man, hier krampfhaft etwas zum „fächerübergreifenden Unterricht“ beitragen zu müssen? Fragt sich denn niemand, was diese Informationen zum mathematischen Verständnis beitragen? Oder ob sie unkonzentrierten Schülern nicht lediglich weitere Ablenkungen bieten?
Übrigens hätte ich gar nichts gegen ein paar Fischbilder, wenn das Unterrichtsmaterial ansonsten didaktisch klar strukturiert wäre, Zusammenhänge deutlich darstellte, und eine effiziente Erarbeitung und intensive Übung ermöglichte. Aber das ist nuneinmal nicht der Fall.
Folgende Bilder zeigen am Beispiel des Themas „Klammern auflösen“, dass auf weniger Platz viel mehr relevante Informationen vermittelt werden, wenn man mathematische Zusammenhänge „altmodisch“, korrekt, in rein mathematischer Sprache darstellt.
Beispielthema „Klammern auflösen“ 1980
Im „Titze, Walter, Feuerlein“ von 1980 können sich Schüler auf das wesentliche konzentrieren, nämlich, wer hätte es gedacht: die mathematische Arbeitstechnik „Klammern auflösen“.
Schwach in Deutsch? Geringes Allgemeinwissen aus den Naturwissenschaften? Macht hier nichts, man kann trotzdem gut in Mathe sein. Denn man muss weder Geschichten vestehen noch Weltwissen einbringen.
Schwach in Mathematik? Dann freut man sich, dass es immerhin eine eindeutige Regel gibt, die gleich zu Anfang präsentiert wird und nicht erst selbst abgeleitet werden muss.
Außerdem wird man für alle Fälle gerüstet, denn man erfährt, wie man mit ineinander geschachtelten Klammern zu verfahren hat. Man lernt auch, wie man sich in der Zwischenrechnung einen Arbeitsschritt sparen kann. Alles Wissen, das man braucht, um korrekt Klammern aufzulösen, wird auf einer halben Buchseite einfach erklärt. Dies ist übrigens auch ganz wesentlich für Schüler mit nichtdeutscher Muttersprache. Für ein intelligentes Zuwandererkind ist es viel schwieriger, seine Stärken in Mathematik zu zeigen, wenn es primär mit langen Texten und Sachaufgaben konfrontiert wird. Für die Lehrkräfte ist es schwerer, zu beurteilen, ob ein Kind primär schlecht rechnen oder schlecht Texte erfassen kann. Das wiederum steht einer zielgerichteten, passgenauen Förderung im Weg.
Titze, Walter und Feuerlein verwenden in ihren Beispielaufgaben zum Thema einfache, ganze Zahlen und lediglich die Variablen p und q. So ist es für die Schüler leicht, das Wesentliche zu betrachten: den Vorgang des Klammernauflösens. Sie werden nicht durch schwierige Rechnungen bei den Zahlen abgelenkt.
Außerdem wird die selbe Gleichung als Illustration aller drei genannten Regeln verwendet. Sie ist eben entsprechend geschickt formuliert. Das erhöht bei den Schülern das Gefühl der Sicherheit. Es schafft den positiven, beruhigenden Eindruck „Ich finde mich zurecht“. Das ist motivierend.
Die anschließenden Übungen erlauben die Konzentration aufs Wesentliche:
Die Übungen enthalten größtenteils ganze Zahlen, nur selten Brüche oder Potenzen. Diese sind ja auch nicht wichtig für das Auflösen von Klammern, das hier geübt werden soll. Sie kommen gelegentlich vor, um die Aufmerksamkeit der Schüler zu erhöhen und zu zeigen, dass selbstverständlich auch mit diesen Zahlen entsprechende Rechnungen möglich sind. Mehr ist nicht nötig, denn das Thema hier ist eben: Klammern auflösen.
Beispielthema „Klammern auflösen“ 2020
Im Buch von 2020 hingegen dauert die Erarbeitung des Themast fast zwei ganze Seiten lang. Dabei erfahren die Schüler jedoch am Ende weniger über das Klammernauflösen als 1980! Es wird trotz der enormen Länge nicht einmal erwähnt, wie man man mit verschachtelten Klammern verfährt. Die Schüler lernen 2020 auch nicht, dass man im Zwischenschritt bereits etwas zusammenfassen kann.
Überhaupt ist die Regel im „modernen“ Buch nicht sehr augenfällig. Schauen Sie selbst, ob Sie sie gleich finden, oder erst eine Weile nach ihr suchen müssen. Sie steht ganz am Ende der Seite und ist nicht ausdrücklich formuliert, sondern muss aus den Beispielen erschlossen werden. Unübersichtlich wird das Ganze, weil das technische Thema „Klammern auflösen“ eingepropft ist in das vage Thema „Umformungen in Summen“.
Es ist gut, vom Rechenproblem aus zu denken – aber das Problem muss überschaubar sein
Grundsätzlich empfehlen auch Harald Walter und Rainer Feuerlein, im Unterricht von Problemen, von Fragen, die die Schüler verdutzt machen, auszugehen. Das hat man hier im Buch auch versucht, indem man die Schüler mit falschen Rechnungen fiktiver Kinder konfrontiert. Aber das Beispiel, anhand dessen hier das Klammern auflösen gezeigt werden soll, ist viel zu kompliziert:
- Erst müssen sich die Kinder wieder mit der Berechnung von Quadern befassen. Hier sind die gegebenen Größen: 4a • 1,5b • 3c. Diese Rechnung muss man aus der Beschriftung der Graphik erschließen.
- Anschließend wird ein fiktive Schüler „Tim“ eingeführt, in die man sich hineinversetzen soll. Er rechnet: 5 m2 + 7m3 = 12 m2. Diese Rechnung steht im Text.
- Nun werden plötzlich Anke und Lars eingeführt, die wieder etwas anderes rechnen: x – (y – z)+ y. In ihren Lösungen sind Fehler, die man finden soll. Die Lösungen stehen in einem Bild.
- Als nächstes stehen links am Rand kleiner gedruckt Rechnungen, die plötzlich wieder zu Tims Zahlen passen. Sie werden in drei Zeilen Text kommentiert.
- Anschließend kommen ganz andere Rechnungen, die nichts mit dem bisherigen Zahlenmaterial zu tun haben. Sie stehen wieder klein links am Rand: 3xy2 + 11 xy2 = 14xy2 und 3xy2 – 11xy2 = -8xy2. Diese werden in zwei Zeilen Text kommentiert.
- Neben einem Regelkasten ohne mathematische Zeichen folgt links am Rand das mittlerweile sechste Zahlenbeispiel: 2ab2 und 1/4ab2
- Das siebte Zahlenbeispiel steht wieder klein und diesmal auch kursiv am Rand: 3m2 und 4m3. Munter geht es daneben unter der Überschrift „Beachte“ mit dem achten Zahlenbeispiel weiter (2xy und 5x2y).
- Langsam kommen die Autoren zum Punkt, nämlich dem Ordnen von Zahlen in Termen und dabei nötigen Auflösen von Klammern. Sie wählen dafür das mittlerweile neunte Zahlenbeispiel, das es diesmal in sich hat, um die Unübersichtlichkeit langer Terme erfolgreich zu illustrieren: 2xy • 1/4y 1/2xy2 • 3 + x • 5x • y
- Endlich, beim zehnten und elften Zahlenbeispiel in dieser Einführung eines neuen Themas, dürfen die Schüler unten auf der Seite nun Varianten der gleichen Rechnung untersuchen. Dies sollen sie an insgesamt 16 Rechnungen tun (inkl. Folgeseite mit „Minus vor der Klammer“).
Das ist viel zu viel Ballast für eine Erarbeitung, in der eine einfache Fragestellung klar erkennbar sein soll. Dadurch verlieren die Autoren den Fokus. Eigentlich wollen sie darauf hinaus, dass man nur gleichartige Variablen zusammenfassen kann und dass Klammern dabei manchmal im Weg sind, also zunächst aufgelöst werden sollen. Um nicht gleich von Variablen zu sprechen, spricht man zunächst von Maßeinheiten, die dann als Analogie auf Variablen übertragen werden sollen. (Dies ist sehr bezeichnend für die „Kompetenzorientierung“: Selbst Variablen, das täglich Brot des Mathematikers, werden nicht einfach als solche akzeptiert, sondern selbst sie werden aus der sichtbaren Welt hergeleitet.)
Auf der nächsten Seite wird nun endlich die Regel genannt und in einem Kästchen dargestellt. Aber sieht man direkt neben ihr unter der Überschrift „Beachte“ eine Randnotiz, die wie eine zweite Regel klingt. Unter dem Kästchen steht eine dritte Regel mit „Beachte“, so dass nicht klar ist, was diese Regeln miteinander zu tun haben und welche man wann „beachten“ soll. Das Ganze ist für den Schüler genau so anstrengend, wie es sich hier liest.
In den nun folgenden Beispielrechnungen werden ausnahmslos schwierige und sehr verschiedene Zahlenarten verwendet. Das verschleiert die Grundtechnik des Klammernauflösens. Lehrer und Schüler können so nicht gut einschätzen, ob etwaige Fehler auf Probleme mit dem neuen Thema oder Lücken im Grundwissen zurückzuführen sind. Die schwächeren Schüler haben es wesentlich schwerer, anhand dieser Aufgaben zu durchdenken, was das Entscheidende beim Klammernauflösen ist. Sie werden von Anfang an demotiviert. Man müsste zurückgehen zu den acht einfacheren Beispielrechnungen, die vor dem Kästchen mit der Regel stehen, und sie anhand der nun bekannten Regeln nocheinmal besprechen. Die Reihenfolge des Buches sieht es aber nicht vor. Wer es nicht schon verstanden hatte, ehe die Regel genannt wurde, hat eben Pech gehabt. Über Schachtelklammern und geschicktes Vorgehen wird im Übrigen nichts gesagt.
Wer sich durch die Beispielaufgaben gequält hat, findet anschließend Übungsaufgaben vor:
Die erste Aufgabe (Nr. 4) darf wohl kaum als Übung mit sanft und systematisch steigender Schwierigkeit bezeichnet werden. Sie ist ein Potpurri aus Rechnungen, in denen allerlei Erschwernisse vorkommen (verdrehte Variablen pz und zp, Brüche, Potenzen, Prozente). Sie gehören keineswegs ausschließlich zum Thema „Klammern auflösen“. Vielmehr soll das Thema wohl wieder „Umformungen in Summen“ sein, Klammern kommen überhaupt nur bei 3 von 18 Rechnungen vor. Während das alte Buch präzise ein Thema nach dem anderen wie ein Scharfschütze anfokussierte, wird hier mit der Schrotflinte geschossen, um allerlei scheinbar Wiederholenswertes nebenbei zu erwischen.
Man darf davon ausgehen, dass die Schüler nach Nr. 4 keinerlei Routine empfinden. Nr. 5 fordert sie nun auf, aus Schnipseln die „äquivalenten Terme“ herauszusuchen. Dieses Stichwort wurde in der Hinführung zum Thema „Klammern auflösen“ nebenbei erwähnt.
Ähnlich frustrierend geht es weiter:
- In Nr. 6 muss nun eine Tabelle gezeichnet werden. In ihr soll man den Wert für eine Reihe von Gleichungen ausrechnen. (Dem „Lesen können“ von Tabellen und Diagrammen wird seit den ersten PISA-Studien übermäßig viel Bedeutung beigemessen).
- In Nr. 7 folgen zehn Rechnungen, bei fünf davon muss man tatsächlich Klammern auflösen.
- In Nr. 8 finden die Schüler eine komplexe Übertragungsaufgabe aus Geographie bzw. Geometrie.
- Nr. 9 bringt erstmals sieben Rechnungen allein zum Thema Klammern auflösen, alle mit schwierigen Zahlenverhältnissen.
- Nr. 10 verlangt die Oberflächen- und Volumenberechnungen komplizierter Quader.
- Nr. 11 bringt noch schwerere Rechnungen zum Klammernauflösen als Nr. 9, sechs Stück an der Zahl.
- Nr. 12 erfordert das Aufstellen von Rechnungen nach wörtlicher Anweisung.
Die Idee ist wohl: Man nimmt an, dass die Schüler immer fragen „Wozu soll das gut sein?“. Diese Frage nimmt man vorweg, ohne sie wirklich zu erwähnen, und will den Nutzen des Klammern auflösens gleich für alle möglichen Fälle erklären. Nur: Schüler, die unter Stress stehen, weil sie nicht einmal die Grundlagen des Klammern auflösens verstehen, dürften gar keine Lust mehr haben, diese Frage zu stellen. Die Frage „Wozu brauche ich das?“ kann man vernünftig nur über ein Werkzeug stellen. Genauso fragen Kinder in einer Werkstatt: Wozu braucht man das da? Und das da? Ein Werkzeug, das man nicht beherrscht, ist aber nutzlos! Es ist völlige Zeitverschwendung, jemandem, der nicht mit ihm umgehen kann, all die schönen Anwendungsmöglichkeiten zu zeigen, die es dafür gäbe. Er kann sie mit Müh und Not vielleicht bewältigen, aber ganz sicher mehr schlecht als Recht. Es ist wie mit allem, was Routine braucht: Wer nicht an Stoffresten Nähen geübt hat, wird keine Freude daran haben, wenn er nacheinander einen Sommermantel, eine Steppdecke und eine Abdeckhabe für die Küchenmaschine herstellen soll. Es mag gelingen – aber ansehnlich oder befriedigend wird es nicht.
Diese Einsicht fehlt den heutigen Schulbuchautoren. Sonst ginge es nicht folgendermaßen mit unserem Thema weiter:
- Nr. 13 verlangt eine Fehleranalyse.
- Nr. 14 fordert zu einem physikalischen Experiment auf, ist aber eigentlich eine Geometrieaufgabe.
- In Nr. 15 müssen Klammern in Gleichungen gesetzt werden.
- In Nr. 16 sind sechs Rechnungen lang Klammern aufzulösen, erstmals tauchen Schachtelklammern auf. In einer Randbemerkung wird erklärt, sie seien von innen nach außen abzuarbeiten.
- In Nr. 17 werden diverse Berechnungen für die Fabrikation einer Arzneimittelschachtel verlangt.
- Nr. 18 schließlich ist mit einem speziellen Computerprogramm für Geometrie zu lösen, über das sowieso nicht alle Schulen verfügen.
Weniger Übungen, mehr Frust
Insgesamt hatten die Schüler hier 18 schwierigere Rechnungen zur Verfügung, die sich rein mit dem Auflösen von Klammern befassen. Im alten Buch waren es 57! Dennoch kann man diese 57 Rechnungen schneller lösen (und dabei Routine im Klammernauflösen gewinnen), als die Doppelseite gemischter Sachaufgaben im neuen Buch (nach deren Bearbeitung man immer noch keine Routine im Klammernauflösen besitzt). In einer kleinen Versuchsreihe haben Siebtklässler, die wir alle diese Aufgaben haben rechnen lassen, bis zu sechs mal so lange gebraucht, um die neuen Aufgaben zu rechnen. Sie haben dabei auch wesentlich mehr Fehler gemacht und ihre seelische Lage als frustriert, gestresst und traurig beschrieben. Der Tenor war: „Ich hätte viel lieber die alten Aufgaben – da wäre ich schneller fertig, und ich kapiere sie viel besser.“
Wenn Sie wissen möchten, welche Nachteile dies auch für die Lehrer bedeutet und wie man eine bessere Reihenfolge gestaltet, lesen Sie hier weiter im zweiten Teil unseres Vergleichs.
Da steckt ganz viel Wahrheit drin. Das war der Grund, dass ich damals angefangen habe für meine Schüler Übungsaufgaben bereitzustellen. Die bunten Textaufgaben in den neuen Büchern konnte man nur lösen, wenn man sicher genug im Stoff war. Und daher fehlten Übungsaufgaben – richtiges Päckchenrechnen wie früher. Kompetenzen kann man gerne üben, wenn die Mathematik dahinter sitzt.
Durch meine Excelkenntnisse entstanden so mittlerweile über 70 Klapptestgeneratoren zu diversen Themen. Einmal F9 gedrückt und schon gibt es neue Übungsaufgaben auf Zufallszahlenbasis – sogar inklusive Lösungswegen, damit die Schüler die Chance haben ihre Ergebnisse auch zu kontrollieren. Mit dem Homeschooling kamen dann auch noch Lernvideos dazu, so dass ich für meine Schüler jetzt eine richtig umfangreiche Mathe-Lernplattform bereitstelle.
Ich habe nicht viel Ahnung von Mathematik. Es war auch einer meiner Hassfächer in drr Schule!
Mit meinem heutigen Wissen über das Lernen und den verschiedenen Lerntypen sowie Menschen die eher über künstlerische als über abstraktes lernen den Stoff bearbeiten, denke ich, dass Sie da etwas zu einseitig berichten.
Sinnvoll wäre es, Mathebücher entsprechend für verschiedene Lerntypen zu gestalten, um jeden individuell zu fördern.
Mich, als künstlerische und eher kreativ lernende, erschlägt ihre Seite aus ihrem alten Mathebuch. Das heutige Buch spricht mich an und macht mir Lust die Aufgaben zu lösen.
Für sehr viele Menschen, nicht nur Kinder, ist es enorm wichtig einen Bezug /Sinn zu den Aufgaben zu haben. Das Gehirn hat sonst keine Lust und schaltet ab! Sicherlich gibt es viele Menschen die abstrakt lernen können. Die Natur macht es uns allerdings anders vor.
Man kann Lerntypen testen und schauen über welchen Kanal am Besten gelernt wird. Dies als ersten step heraus zu finden ist eine supergute Basis und dann kann das Material entsprechend gestaltet werden.
Die Kinesiologie bietet sehr gute Möglichkeiten und öffnet den Horizont für due Vielfalt des Lebens!
Liebe Tanja,
es freut uns, dass Sie mitlesen und uns Ihre Ansicht schreiben. Aber wir befinden uns an völlig gegensätzlichen Standpunkten. Kinesiologische Verfahren überstehen keine Doppelblind-Testungen, sie sind Selbsttäuschung und keine Methode, die wir jemals guten Gewissens empfehlen würden. Die populäre Theorie der „Lerntypen“ ist ebenfalls mit Vorsicht zu genießen, da sie in der Regel wiedergegeben wird, als wären die verschiedenen angenommenen Typen in etwa gleich verteilt. In Wirklichkeit lernt der allerüberwiegendste Teil der Menschen am besten über das Lesen, ein kleiner Teil besser über das Hören (aber vermutlich nur deshalb, weil sie nicht so gut lesen können). Von handelndem oder „kreativem“ Lernen kann man so allgemein nicht sprechen, sondern man muss über verschiedene Abschnitte des Lernprozesses sprechen. Das tun wir ausführlich in der Darstellung der Operation und in anderen Blogartikel (Suchwort: Hans Aebli). Kurz gesagt ist handelndes oder kreatives Lernen (was auch immer man dann für kreativ hält) sehr angebracht in der Anwendungsphase. Das steht auch so im Artikel: Für diesen Abschnitt sind manche der gezeigten Aufgaben zweifellos interessant. Aber eben nicht zum Üben und Festigen des neu gelernten. – Dass auch H. Walter und R. Feuerlein von kreativen Problemstellungen in der Erarbeitung ausgehen – und dass das Schülern Spaß macht, da sind wir sicher einer Meinung, und das will auch niemand den Schülern vorenthalten.
Herzliche Grüße!
Miriam Stiehler