Wie motiviert man schweigsame Kinder, mit anderen zu sprechen?
Kürzlich wurde ich von einem Kindergarten um Hilfe gebeten, da ein Kind in der Gruppe nicht mit anderen spreche; eine gar nicht so seltene Anfrage. Das Störungsbild „selektiver Mutismus“, also das Schweigen in bestimmten Situationen oder gegenüber bestimmten Personen, ist nach wie vor nicht hinreichend erforscht und wissenschaftlich überprüfte Hilfen oder auch Therapiekonzepte sind kaum zu finden. Was kann man also aus förderdiagnostischer Sicht überlegen und tun, wenn ein Kind nicht mit anderen sprechen möchte? Wie kann man frühzeitig helfen, wenn ein Kind die verbale Kommunikation verweigert oder sie zumindest – warum auch immer – unterlässt? Wie kann man verhindern, dass sich dieses Problem zu einer ausgeprägten Störung verhärtet?
Frühe Hilfe ist auch deshalb wichtig, weil Kinder, die nicht sprechen, sich selbst dadurch ausgrenzen, am gemeinsamen Spiel mit anderen Kindern schlechter teilnehmen und ganz schlicht nicht den sozialen Kleber nutzen können, den das gemeinsame Gespräch darstellt. Erzieher fühlen sich durch dieses Verhalten zusätzlich nicht selten provoziert und verlieren irgendwann die Geduld, da sie wissen, dass das Kind grundsätzlich sprechen kann. Warum antwortet es denn dann nicht, wenn der Erzieher oder Lehrer etwas fragt? Hat es etwa keinen Respekt? Schnell entstehen so Frustration und Abneigung. Auch das Eltern-Kind-Verhältnis wird dadurch sehr belastet, da Eltern sich nicht selten für das Verhalten ihres Kindes schämen. „Sag danke für die Scheibe Wurst!“ – aber das Kind schaut die Metzgereiverkäuferin nur groß an und hält den Mund.
„Er spricht gar nicht – also außer, wenn…“
Im vorliegenden Fall ging es um einen Buben von 3,5 Jahren, der im Kindergarten sehr schweigsam war, aber beim Abholen den Eltern wie ein Wasserfall von den Ereignissen des Tages erzählte. Der erste Schritt in der Förderdiagnostik ist für mich, die Aussage „Er spricht nicht“ zu überprüfen. Daher fragte ich ersteinmal intensiv bei den Erzieherinnen nach, ob er denn wirklich immer schweige. Dabei zeigte sich bald, dass in der einen oder anderen Situation das Sprechen doch gelingt: Es gäbe ein oder zwei Kinder, mit denen er sich ganz leise in der Bauecke oder im Garten unterhalte. Und im Stuhlkreis bei einem Fingerspiel würde er zumindest die passenden Mundbewegungen zum Lied machen, vielleicht sogar den Text flüstern. Auch beim Vorlesen seines Lieblingsbuches würde er zu den Bildern etwas sagen, wenn er nah bei der Erzieherin sitzen darf. Und wenn bei der Brotzeit Tee nicht ausgeschenkt wird, wenn man einfach eine leere Tasse hinhält oder „Tee“ sagt, sondern nur auf den ganzen Satz hin „Kann ich bitte Tee haben?“, stellt er ebenfalls die vollständige Frage, um seinen Tee zu bekommen. Diese Reflexion hilft den Erzieherinnen schon, das Kind differenzierter zu sehen. Wie man diese Situationen systematisch heilpädagogisch erklären kann, dazu gleich mehr.
Mechanismen des Schweigens
Zunächst sollte man aber noch weiter beobachten, wie es dem Kind eigentlich gelingt, sich der verbalen Kommunikation zu entziehen. Die Frage, ob er das Sprechen „verweigere“, hatte die Gruppenleitung zunächst verneint. Damit meinte sie, dass er nicht trotzig oder aggressiv reagiere. Aber eine Verweigerung lässt sich sehr wohl beobachten: Die Erzieherin ruft den Bub zu sich, der gerade ein Bild gemalt hat; das soll er mitbringen. Das tut er auch. Sie fragt: „Was hast du denn da gemalt?“. Er schaut sie mit aufrechter, leicht von ihr abgewandter Körperhaltung an, ohne ihr aber in die Augen zu sehen, und hält den Mund standhaft geschlossen, wenngleich ohne angespannt zusammengepresste Lippen. Sie wiederholt die Frage zweimal, aber als Antwort hält er ihr nur das Bild hin. Nach der dritten Frage sagt nun die Erzieherin von sich aus: „Na, du möchtest mir heute wohl nichts erzählen?“. Diese Steilvorlage nutzt der Junge, ein Grinsen huscht über sein Gesicht, er schüttelt den Kopf und geht wieder. Er hatte den längeren Atem – da die Erzieherin sich durch das Schweigen verunsichern ließ, brauchte er nur abzuwarten. Wie viele Erwachsene hatte auch diese Erzieherin Angst, unnötigen Druck aufzubauen und wollte eine Eskalation vermeiden. Sie gab ihm von sich aus mit ihrer Vorlage die Möglichkeit, seinen Unwillen zu sprechen, durchzuhalten. Damit bestätigte sie: Wenn er nicht sprechen möchte, spricht er eben nicht. Das hält den Status Quo aus Sicht des Kindes zufriedenstellend aufrecht.
Als ich dies der Erzieherin bewusst machte, war damit ein wichtiger Schritt getan: Ihr war vorher nicht klar gewesen, wie sie sich durch das Schweigen selbst zu einer Aussage bringen ließ, die den Abbruch der Kommunikation legitimierte und diesen Zustand weiter verfestigte. Erst, wenn den Erwachsenen ihre eigene Rolle in der Kommunikation bewusst ist, macht es Sinn, diese Muster verändern zu wollen.
Motivation und Persönlichkeit
Und zu verändern waren sie, zumindest in diesem Falle, recht leicht. Aber betrachten wir zunächst, wie wir die vorhandene Sprechbereitschaft des Kindes tiefer verstehen und systematisch einordnen können. Nach Paul Moors Modell des Inneren Halts können Erzieher auf drei Bereiche der Persönlichkeit einwirken:
- auf das „Gegebene“ mit allen Stimmungen, Antrieben, Interessen und Fertigkeiten des Kindes,
- das „Aufgegebene„, hierher gehört die Akzeptanz von Regeln, der Wille zu ihrer Einhaltung und der Mut, sich mit eigenen Fehlern auseinanderzusetzen
- und das „Verheißene„, das sich erfüllt, wenn die Erziehungsaufgaben gelöst werden und dann eine größere Gemütstiefe mit lebensbereichernder Freude, Staunen, Liebe und auch Glauben ermöglicht.
Riskant: Antriebe gegeneinander ausspielen, um Motivation zu erzeugen
Viele Motivationstechniken konzentrieren sich ausschließlich auf den Bereich des „Gegebenen“. Sie machen sich zu Nutze, dass man verschiedene Antriebe eines Menschen gegeneinander ausspielen kann. So versucht man, dem Antrieb „Jähzorn“ Herr zu werden, indem man das Kind mit einem Gummibärchen oder einem grünen Smiley für jede Unterrichtsstunde belohnt, in der es kein Schimpfwort gesagt oder niemanden angeschrien hat. Man spielt also den Antrieb „Jähzorn“ gegen den Antrieb „Naschlust“ oder „Geltungsdrang“ aus. Das Problem dabei ist, dass man auf diese Weise nicht nur den unerwünschten Antrieb auf ein gesundes Maß schrumpft, sondern im Lauf der Zeit die konkurrierenden Antriebe auf ein ungesundes Maß aufbläht. Auf Dauer ist es kein schöner Zug, wenn jemand ein moralisch richtiges Verhalten nur dann zeigt, wenn er dafür eine Belohnung bekommt, mit der er seine Naschlust oder seinen Geltungsdrang befriedigen kann. Es ist daher wichtig, die Antriebe, die man als Gegenspieler des ichbezogenen Wunsches zu Schweigen einsetzen möchte, sorgfältig auszuwählen. Es sollten Antriebe sein, bei denen es für die Persönlichkeitsentwicklung positiv oder zumindest neutral ist, wenn man sie an ein höheres Maß der Befriedigung gewöhnt. Naschlust und Geltungsdrag sind daher als Dauerhilfsmittel ebenso ungeeignet wie Angst; weder dauerndes Belohnen noch Drohen ist ein guter Weg. Humor ist ein gangbarer Weg, genauso wie der Wunsch nach logisch richtigen Aussagen oder der Drang, angefangene Handlungen zu vollenden. Allerdings muss man auch bei diesen Antrieben weiterhin mit Augenmaß vorgehen. Man darf sie nicht übertrieben aufreizen, um nicht durch Lächerlichkeit an Autorität zu verlieren, wenn man alles mit Humor zu lösen versucht. Man sollte auch nicht zwanghaften Verhaltensmustern oder Bequemlichkeit Vorschub leisten, indem man zu viel mit logischen Vervollständigungen arbeitet.
In der Praxis heißt das: In diesem Fall z.B. funktionierte der Weg über Humor und logische Richtigstellung, als ich den Jungen zu mir rief. Dabei hatte er zufällig zwei kleine bekritzelte Papierstücke in der Hand. Auf die Frage hin „Was ist denn das?“ schwieg er wie erwartet. Aber auf die ODER-Frage hin „Sind das Kekse oder Papiere?“ legte er den Kopf schief und sagte „Papiere!“. Als ich fragte: „Was willst du damit machen?“ schwieg er wieder, aber auf die Frage „Willst du damit basteln oder sie aufessen?“ sagte er „basteln will ich“. Da ich gerne eine längere Äußerung gehabt hätte, fragte ich weiter. Nun bekam ich erstmals eine Antwort auf eine offene Frage: „Was willst du mit ihnen basteln?“ – „Kleben.“ Ich zuckte mit den Achseln und sagte: „Wie, kleben? Was meinst du?“. Zweimal kam als Antwort „kleben“ – der Bub versuchte hartnäckig, die Interaktion, die ihm gefiel, am Laufen zu halten, ohne aber mehr als das Allernötigste dabei sagen zu müssen. Aber als ich sagte „Wie, kleben, willst du es dir auf die Nase kleben?“ musste er lachen, und auf die Satzvorlage hin „Sag es bitte richtig so: Ich will das Papier….“ antwortete er im ganzen Satz: „Ich will das Papier aufkleben.“
Notwendig zur Reifung: Pflichtbewusstsein als Motivation
In diesem Moment war der erzieherische Bereich verlassen, in dem ich nur die Antriebe „Humor“ und „Drang zur logischen Vervollständigung“ gegen den Wunsch, zu schweigen, ausgespielt hatte, und der wertvolle und wichtige Bereich des Willens war betreten. Die humorvolle und annehmende Interaktion hatte ermutigend gewirkt und den Zugang zu diesem Bereich eröffnet. Das ist wichtig, denn mittelfristig muss es erzieherisch gelingen, dass Kinder ihre Antriebe in den Dienst einer akzeptierten Regel, einer bejahten Aufgabe stellen. Dazu müssen sie zwei Dinge schaffen: Sie müssen sich selbst zumuten (oder sich vom Erzieher, dem sie gehorchen, zumuten lassen),
- auf die Befriedigung von Antrieben, die der Aufgabe entgegenlaufen, eine Zeit lang zu verzichten
- und sie müssen die Antriebe, die für die jeweilige Pflicht hilfreich sind, zur Erfüllung der Aufgabe einsetzen.
Konsequente, aber ermutigende und freundliche Autorität ist dabei die Schlüsselqualifikation des Erziehers. Intuitiv hatte die Erzieherin in dieser Gruppe das beim Teetrinken bereits richtig gemacht. Denn in der Situation, wo der Bub mit einem vollständigen Satz um Tee bittet, wird er durch sein reifendes Pflichtbewusstsein zum Sprechen motiviert, nicht nur durch den Antrieb „Durst“. Er möchte etwas bekommen und erfüllt die Bedingung, die daran geknüpft ist. Das funktioniert deshalb als Beitrag zur Willenserziehung, weil in diesem Fall keine arbiträre Belohnung vorliegt. Es ist nicht so, dass nur er Tee bekommt, wenn er richtig fragt. Sonst würde er für eine Selbstverständlichkeit belohnt, für deren Erbringung die anderen Kinder leer ausgehen (ein häufiges Problem mit Belohungssystemen: Die Mitschüler ärgern sich z.B., dass das andere Kind als einziges für die Selbstverständlichkeit belohnt wird, niemanden zu schlagen.). Im vorliegenden Fall gilt die Regel, wie man nach dem Tee fragen soll, für alle Kinder. Der Junge akzeptiert diese Regel. Er hält es aus, wenn man ihm auf die Äußerung „Tee!“ hin zunächst sagt: „Bitte stell die Frage richtig.“, und er ist in der Lage, diese Forderung zu erfüllen. Damit sind alle Schritte eines Willensprozesses erfüllt. Vor allem aber verzichtet er auf die Befriedigung seines Antriebs, nicht zu sprechen, zugunsten einer Regel, und hierin liegt der große erzieherische Wert dieser Situation. Denn zur Reife und zum Inneren Halt durch Willen und Pflichtbewusstsein gehört es, Unlust auszuhalten, um das Richtige oder sachlich Notwendige zu tun. Die Erzieherin hat hier also unbewusst schon etwas sehr richtig gemacht.
Ebenso wichtig: Sich beschenken lassen als Gegenpol zur Leistung
Heutzutage wird das Pflichtbewusstsein stark vernachlässigt, und dieser erzieherische Trend richtet viel Schaden an, so dass man immer wieder an seine Bedeutung erinnern muss. Dennoch ist es auf Dauer nicht ratsam, ausschließlich über den Willen zu motivieren. Denn dabei würde man sich einseitig auf die Unlust konzentrieren, die es auszuhalten gilt, um etwas Gutes zu erreichen. Nach dem Motto „Was uns nicht umbringt, macht uns härter“ oder bayrisch gesagt „A Guader vertrogts und um an Schlechtn is ned schad“ – das hat einen wahren Kern, aber ausschließliches Verweilen in der Selbstversagung und Askese macht keine fröhlichen Kinder. Paul Moor betont daher, dass der Bereich des „Verheißenen“ ebenso wichtig für den Menschen ist wie der Wille. Wenn man in der Lage ist, sich von seinen Antrieben nicht beherrschen zu lassen; wenn man also nicht impulsiv, getrieben und egozentrisch ist, sondern sich beherrschen kann, dann macht einen das nicht nur zu einem guten Pflichterfüller, der etwas geben und leisten kann. Wenn ein Kind gelernt hat, mit einem vernünftigen Maß und Rhythmus für die Befriedigung seiner Antriebe zufrieden zu sein, dann wird es auch weniger oberflächlich in seiner Herangehensweise an die Welt. Es wird somit frei dafür, sich beschenken zu lassen von all dem Schönen, das es umgibt. Paul Moor meint damit Dinge, die mehr Tiefe haben als nur eine oberflächliche Bedürfnisbefriedigung: Die jahrelang bleibenden schönen Erinnerungen an ein Erlebnis oder hochwertige Medien – Musik, Geschichten, Bücher, Bilder -, die einen inneren Schatz bilden, von denen man später sagen kann: „Das hat mein Leben wirklich bereichert.“ Für Moor gehören dazu anspruchsvolle Literatur genauso wie der mit Liebe gedeckte Geburtstagstisch und der von Mama persönlich gebackene Kuchen oder das mit Papa gebaute Rindenboot. Es geht hier also nicht um aufwändige, große „Bespaßungen“, sondern um die kleinen Erlebnisse, in denen ein Mensch sich einem von ganzem Herzen öffnet und mit voller Aufmerksamkeit, ohne Ablenkung durchs Smartphone, in ehrlich interessierte Verbindung mit dem Kind tritt.
So wie der Erzieher Selbstbeherrschung braucht, um das Kind im Bereich des „Gegebenen“ zu erziehen und Pflichtbewusstsein, um es im Bereich des „Aufgegebenen“ zu erziehen, so braucht er eine gewisse innere Tiefe, um den Bereich des „Verheißenen“ zu adressieren und dem Kind zu zeigen, wieviel es sich schenken lassen kann vom Leben, von den Dingen und Menschen um sich herum. Im vorliegenden Fall war das für den Jungen zumindest ansatzweise beim Vorlesen gegeben: Jemand wendet sich den Kindern bewusst und gezielt zu, ohne eine Willensleistung von ihnen zu fordern. Gefordert sind lediglich die notwendigen Rahmenbedingungen wie Stillsitzen, also die immer grundlegende Genügsamkeit der Antriebe, d.h. die Erziehungsaufgaben aus dem Bereich des „Gegebenen“, ohne die man sich gar nicht beschenken lassen kann. Beim Vorlesen wird den Kindern etwas geschenkt, sie dürfen aufnehmen, genießen und sich freuen an der Geschichte und den Bildern im Buch. Und aus dieser Freude heraus fällt dem Bub wiederum leicht, was man in anderen Situationan aus Pflichtbewusstsein einfordern muss: Er spricht. Er spricht, weil er mit anderen teilen möchte, was ihn an der Geschichte bewegt, weil er sein Staunen oder seine Freude aussprechen möchte.
Gelingende Motivation berücksichtigt alle drei erzieherischen Bereiche:
- Gegebenes: Die Antriebe dürfen nicht ungünstig aufgereizt werden, indem man weniger wünschenswerte Antriebe als Motivator nutzt (Naschlust, Geltungsdrang, Angst). Mittelfristig muss der Wunsch, zu schweigen, auf ein vernünftiges Maß reduziert werden. Der Wunsch, zu schweigen, darf nicht verhaltensbestimmend sein, er darf das Kind nicht beherrschen. Es darf ihn nicht maßlos ausleben. Humor und der Wunsch nach logischer Richtigkeit können ein Stück weit helfen, den Wunsch, zu schweigen, in den Hintergrund treten zu lassen und so daran zu gewöhnen, nicht erfüllt zu werden.
- Aufgegebenes: Der Wunsch, zu schweigen, muss sich der Regel, dass man mit anderen Menschen verständlich spricht, unterordnen lernen. Das Kind muss die damit verbundene Unlust auszuhalten lernen, ohne aggressiv oder weinerlich zu reagieren. Die Fähigkeit, zu sprechen, muss sich zugleich in den Dienst der jeweiligen Aufgabe stellen, d.h. das Kind muss bereitwillig seine Sprechfertigkeit einsetzen, um soziale Situationen zu bewältigen. Dazu ist von Seiten des Erziehers freundliche Ermutigung notwendig, aber auch Konsequenz.
- Verheißenes: Das Kind muss erleben, wie es Lust bekommt, zu sprechen; wie es sich wünscht, etwas mit den Menschen zu teilen, denen es zuvor die Kommunikation verweigert hat. Sich zu äußern bedeutet in diesem Zusammenhang auch, anderen etwas zu geben, und je reicher man selbst an „Gemütstiefe“ ist (was für ein schönes altes Wort), desto mehr gibt es mitzuteilen. Wer beschenkt wird, tut sich leichter, mit dem Schenkenden zu teilen, was ihn bewegt.
Wer vor einer solchen Aufgabe steht, hat also kein simples Schema F zur Verfügung, um ein Kind zum Sprechen zu bringen. Je nach Situation steht einer der genannten drei Bereiche mehr im Vordergrund, und wir müssen die erzieherischen Vorgänge richtig einordnen können, um unsere Interventionen förderdiagnostisch bewerten zu können. Das gilt natürlich entsprechend nicht nur für Kinder, die nicht sprechen wollen, sondern für jegliche Motivation zu irgendeinem Verhalten, das ein Kind (noch) nicht zu leisten bereit ist.
Richtig schön geschrieben! Besonders haben mir die Zeilen über den Humor gefallen: „Aber als ich sagte: ‚Wie, kleben, willst du es dir auf die Nase kleben?‘, musste er lachen.“ Humor, Lachen und Freude sind mit die stärksten „Helfer“, die wir haben. Herzlichen Dank aus Oldenburg, Dorothea Thomé
Herzlichen Dank für die nette Rückmeldung 🙂 Liebe Grüße, Miriam Stiehler
Erfreulich finde ich die Frage: Was ist denn da, wenn das Schweigen nicht da ist?
Ich mag Ihren Ansatz, zuallererst auf das zu schauen, was funktioniert.
Was Sie über die Mechanismen des Schweigens beobachtet haben, geht leider am Störungsbild des Selektiven Mutismus vorbei:
Das Kind KANN bei dieser Störung situationsabhängig nicht sprechen. Wenn es im weiteren Verlauf durch eine Entspannung der Situation (ein freundlich-humorvolles „Du willst wohl nicht sprechen.“) wieder Zugang zu seinen kommunikativen Fähigkeiten bekommt, beweist das NICHT, dass es vorher nicht wollte.
Selektiv mutistische Kinder sind weder trotzig noch manipulativ und sie verspüren auch keinen „Wunsch zu Schweigen“. Allein die Störung entscheidet darüber, was wann und wem gegenüber möglich ist.
So schön es wäre, wenn man „nur“ motivieren müsste – genau diese Motivation wird einen Druck aufbauen, der die mutistischen Blockaden tendenziell verstärkt und das freie Sprechen erschwert.
In der Praxis heißt das: Annehmen, was möglich ist und Angebote machen, wie das Kind seine Verhaltenskompetenzen erweitern kann, ohne sich damit selbst zu überfordern.
Zunächsst auswendig gelernte Sätze/Floskeln auf Anfrage bzw. Nachfrage zu reproduzieren, kann ein Anfangspunkt sein. Es wird das Problem der situationsabhängigen Sprechblockaden aber auf Dauer eher nicht lösen.
Sehr geehrte Frau Winter, zunächst vielen Dank für Ihren Kommentar. Schön, dass Ihnen der Blick auf das Vorhandene aufgefallen ist. Das geht auf eine Grundregel Paul Moors zurück, die heißt: „Nicht gegen den Fehler, sondern für das Fehlende.“. Das hat sich tatsächlich schon oft als sehr hilfreiche Blickrichtung erwiesen.
Wir sind offenbar verschiedener Meinung, was das innerpsychische Erleben des Kindes betrifft. Vielleicht haben Sie mich da falsch verstanden: Ich bin in keinem Fall der Meinung, dass man ein Wollen oder Nichtwollen von außen automatisch erkennen oder „beweisen“ kann. Als kritischer Rationalist gehe ich zunächst davon aus, dass man Beobachtungen macht, auf ihrer Basis Hypothesen aufstellt (z.B. Beobachtung: Das Kind spricht mit der Mutter, Hypothese: Es kann pyhsisch sprechen; Beobachtung: Es spricht nicht mit der Erzieherin außer es möchte Tee haben – Hypothese: Der Wunsch nach Tee war größer als der Wunsch zu Schweigen).
Und dann kommt etwas ganz Entscheidendes: Hypothesen kann man aus kritisch-rationalistischer Sicht eigentlich nur widerlegen bzw. zu widerlegen versuchen. Wenn eine Hypothese einer Widerlegung standhält, ist sie besser bewährt, aber nicht „bewiesen“.
Was das mit Ihrer Auffassung zu tun hat? Nun, Sie behaupten, „Das Kind KANN bei dieser Störung situationsabhängig nicht sprechen.“ Das ist Ihre Hypothese – und sie wird widerlegt durch das, was Sie selbst „Zugang zu seinen kommunikativen Fähigkeiten bekommen“ nennen. Das Kind konnte die ganze Zeit sprechen, es war physisch und kognitiv in der Lage zu sprechen. Aber es hat zunächst nicht gesprochen, das kann man beobachten. Dass es „situationsabhängig nicht sprechen KANN“ ist keine sehr erklärungsmächtige Hypothese, denn KANN bezeichnet ein Vermögen, das aber offenbar sehr wohl vorhanden war. Was ich „Wunsch“ oder „Antrieb“ nenne, geht auf die Antriebstheorie von William Stern und die Theorie von Geltungsdrang vs. Gemeinschaftsgefühl nach Alfred Adler zurück, und bietet wesentlich wirksamere Begriffe, mit deren Hilfe man den Wechsel vom Nichtsprechen zum Sprechen erklären kann. –
Ich denke, hinter Ihrer Auffassung steht die Besorgnis, man könnte diesen Kindern mit liebloser Härte, mit Vorurteilen oder unverdienten Strafen begegnen. Dass das nicht meine Absicht ist, ahnen Sie sicherlich bereits. Ich halte dennoch sehr viel davon, wie Paul Moor das bereits getan hat ganz klar zwischen psychologisch beurteilendem und annehmendem Verstehen zu trennen, da das sehr viel mehr Handlungsspielräume eröffnet, ohne dem Kind taktlos oder unfair gegenüberzutreten. „Angebote zu machen“ alleine genügt meines Erachtens ganz selten, da die Kinder lange Zeit nicht aus eigener Kraft, ohne haltgebende Konsequenz von außen, an ihren „Blockaden“ vorbeikommen. Das gilt aber für sehr viele Bereiche der Pädagogik. Anbieten alleine ist zuwenig; wir sind Erzieher, nicht Markthändler. Und Erzieher greifen ein statt nur anzubieten. So sehe ich das zumindest.
Mit herzlichen Grüßen,
Dr. Miriam Stiehler
Ich gebe Frau Winter recht. Und das, was sie als Angebote meint, geht genau in die Richtung, dass man eingreift. Wenn man das nämlich richtig macht, also die richtigen Angebote, auch Sprechangebote, wählt, dann wird das eine Wirkung hinterlassen und das Kind dazu führen, zu sprechen.
Frau Winters Hypothese wird auch nicht widerlegt. Es ist nach aktuellem Forschungsstand (der auch wieder nicht so neu ist, zumindest im englischsprachigen Ausland, wo man auch tatsächlich Forschung dazu betreibt) so, dass das Kind nicht sprechen kann. Dass die Angst ihm physisch im wahrsten Sinne des Wortes die Kehle zuschnürt.
Auch Ihre Hypothese „Der Wunsch nach Tee war größer als der Wunsch nach Schweigen“ basiert auf der Annahme, das Kind wünscht es zu schweigen.
Korrekter, d.h. nach aktuellem Stand hätte man Ihre Hypothese auch so formulieren sollen:
Beobachtung: Das Kind spricht mit der Mutter, Hypothese: Es kann pyhsisch sprechen;
Beobachtung: Es spricht nicht mit der Erzieherin außer es möchte Tee haben. Beobachtung: Wenn das Kind nach Tee fragt, muss es nur einen standardisierten Satz widergeben. Beobachung: Das Kind fühlt sich unwohl, wenn es zu sehr in den Mittelpunkt rückt und alle Gesichter auf ihm sind, in Erwartung, was und OB es etwas sagt. Beobachtung: Wenn Kinder sagen „Ich möchte gern noch Tee“, dann nimmt außer der Erzieherin keiner groß Notiz davon. Beobachtung: Beim ersten Mal hat das Kind noch sehr zögerlich und leise den Satz gesagt, bei den weiteren Malen schon etwas sicherer.
Hypothese: Die Angstsituation ist niedrig genug und das zu sagende sehr standardisiert, so dass das Kind hier in der Lage ist, diesen Satz zu äußern.
Ich glaube, hinter Frau Frau Winters Auffassung steckt nicht Besorgnis, dass man den Kindern zu lieblos begegnet. Sie hat ja sehr deutlich geschrieben, was hinter ihrer Auffassung steckt, nämlich der Gedanke, dass Ihre Ansätze von Grund auf dem Problem nicht gerecht werden und das Problem und damit „die mutistischen Blockaden verstärkt“ werden.
Ich würde Sie, Frau Stiehler, noch einmal bitten, diesen Artikel zu überdenken, denn Sie tun damit betroffenen Kindern einen Bärendienst und vertreten hier Annahmen, die längst als überholt gelten und bei der Therapie kontraproduktiv sein können. Ihr Beitrag spiegelt nicht den aktuellen Forschungsstand wider. Leider hat sich im deutschsprachigen Raum in den letzten 20 Jahren kaum etwas getan in der Analyse von selektivem Mutismus – im englischsprachrigen dagegen schon.
Nach aktuellem Stand ist selektiver Mutismus eine Angststörung. Bei Kindern ist die Angst vor dem Sprechen und ggf. auch nonverbaler Kommunikation in bestimmten Situationen und bestimmten, nicht ausreichend vertrauten Personen so groß, dass diese Kinder tatsächlich mit diesen nicht sprechen können, genauer, ihre Angst hemmt sie dermaßen, dass sie kein Wort herausbekommen.
Gerade das Gegenteil von dem ist der Fall, was Sie auf dieser Seite mehrfach behaupten. Bei Ihnen ist andauernd die Rede vom „Wunsch zu Schweigen“, dass das Kind „diesen Wunsch maßlos auslebt“ davon dass für Kinder der Status Quo des Nichtsprechens „zufriedenstellend“ ist. Sie unterstellen, dass das Kind keine „Lust“ hat zu sprechen oder die Situation sogar genießt.
Es beschleicht mich das Gefühl, dass ein Kind mit selektivem Mutismus mit Ihnen geredet hat und Sie nun meinen, Sie hätten dieses Krankheitsbild durchschaut. Haben Sie sich mit der neueren Forschung dazu auseinandergesetzt? Wieviele Kinder mit selektivem Mutismus haben Sie behandelt? Wieviele davon waren auch schon 6 oder 7 Jahre alt?
Bei einem 3,5 jährigen Kind lässt sich selektiver Mutismus noch „relativ“ einfach behandeln, insofern begrüße ich es, wenn mehr Erzieher im Kindergarten darauf aufmerksam gemacht werden, denn man kann hier so viel Leid vermeiden, wenn man das Problem rechtzeitig erkennt und angeht. Aber eben richtig angeht.
Es ist auch nicht so überraschend, dass dieser Junge mit Ihnen gesprochen hat, denn Sie waren eine neue und offensichtlich auch sehr sympathische Person für den Jungen, bei der sich das „Nichtsprechen“ noch nicht verfestigt hatte. Zudem hat der Junge ja schon erste Erfolge erzielt, da er nicht komplett stumm in der Einrichtung war – er war also schon auf einem guten Weg. Er hat aber in anderen Situationen weiterhin selektiven Mutismus, unabhängig davon, ob er nun mit Ihnen gesprochen hat oder nicht. Wäre der Junge 2 oder 3 Jahre älter gewesen, hätten Sie diesen Erfolg wahrscheinlich auch nicht gehabt. Daher halte ich es bedenklich, dass Sie ausgehend von dieser Erfahrung verallgemeinern, ohne wirklich über selektiven Mutismus Bescheid zu wissen. Zumindest gewinnt man diesen Eindruck aufgrund Ihres Artikels, der eben konträr zu aktuellen Ansätzen und Erkenntnissen steht.
Kinder mit selektivem Mutismus *wollen* sprechen. Deswegen funktionieren die Ansätze, die genau davon ausgehen und allein darauf beruhen, die Angstsituationen zu verringern, auch bei vielen Kindern sehr gut. Denn ja, es gibt erfolgreiche Ansätze, sehr gezielt und ohne „Herumprobieren“ selektiven Mutismus bei Kindern zu therapieren.
Gern gebe ich Erklärungen zu denen von Ihnen geschilderten Situationen, die zu einer Angststörung passen:
– der Junge redet mit der Mutter wie ein Wasserfall. Dies ist ganz typisch. Die Kinder reden ja gern und mit Personen, wo die Angst nicht da ist, ist das Sprechen auch kein Problem. Aus dem Grund werden Kinder, die es geschafft haben mit einer Person (in bestimmten Situationen) zu sprechen, auch nicht mehr aufhören mit dieser Person zu sprechen. Denn das Angstniveau mit dieser Person ist nun niedrig genug und das Kind fühlt sich sicher. Diese Tatsache passt aber nicht zu Ihrer Annahme, dass das Kind „gern geschwiegen“ hat – denn warum sollte es jetzt auf einmal nie wieder gern schweigen.
– der Junge spricht leise mit Spielkameraden in der Ecke – mit diesen Kindern hat er genug Vertrauen aufgebaut. Und er spricht leise, damit ihn eben auch wirklich nur diese Spielkameraden hören. Hat das Kind das Gefühl, ein anderes Kind oder die Erzieherin ist zu nah und hört aktiv zu, würde er sicher aufhören zu sprechen, denn die Angst würde wieder zu groß werden. Die Fähigkeit zu Sprechen ist an Personen, Situationen und Orte gebunden. Gerade Ort, wie der Garten oder Spielplätze erlauben eher ein Absenken des Angstniveaus, weil man körperlich aktiv ist, weil man seine Umwelt dabei leichter vergisst und Kinder halt auf Spielplätzen einfach Spaß haben und entspannter sind. Entsprechend ist auch bei einem Kind das Angstniveau niedriger als bspw. in einem Raum.
– beim Stuhlkreis und Liedern bewegt der die Lippen – eben weil er gern teilnehmen möchte und weil diese festgelegten Reime und Lieder das Sprechen auch erleichtern. Da kann man nichts falsch sagen. Und wenn alle laut reden, dann hört einen auch niemand so deutlich. Das sind genau die Situationen, wo Kinder mit selektivem Mutismus ebenfalls ihre Angst leichter überwinden können. Das Mitbewegen der Lippen ist ein guter Anfang.
– Beim Vorlesen ist es das Lieblingsbuch des Kindes. Das Kind fühlt sich also vertraut und sicher, es ist erfreut, das Buch zu hören. All das verringert Angst und schafft Mut. Das Kind sitzt auch nah bei der Erzieherin, muss also nicht schreien und damit Aufmerksamkeit generieren. Das erleichtert das Sprechen.
– Das Kind sagt beim Tee tatsächlich einen Satz. Es ist ein festes Ritual, es gibt diesen einen Satz. Und wenn das Kind nichts sagt, würde es wahrscheinlich noch mehr in den Mittelpunkt rücken, was Kinder mit selektivem Mutismus gerade nicht wollen. Alle Kinder sagen den gleichen Satz, da kann man nichts falsch machen. Und wenn das ein paar Mal gelungen ist, dann verspürt das Kind in der Situation auch keine Angst mehr. Die Situation ist ja auch beherrschbar. Das Kind wird den Satz aber sicher auch nicht herausschreien.
– Das Kind lächelt, als die Erzieherin sagt „du redest wohl heute wieder nicht mit mir“. Das ist kein Grinsen, wie sie es unterstellen. Natürlich haben sich hier auch selbst replizierende Muster eingefahren. Dem Kind fällt es umso schwerer zu sprechen, je länger es mit einer Person nicht gesprochen hat. Das Kind ist trotzdem sehr nervös, deswegen schaut es nicht in die Augen, wendet sich leicht ab – hofft, dass keine Frage kommt. Wenn doch eine kommt, kann es sie einfach nicht beantworten. Ist aber erleichtert, als die Erzieherin es dann ziehen lässt mit ihren Worten, dass sie das Nichtsprechen akzeptiert. Die Stressituation ist für das Kind vorbei und es lächelt. Und es lächelt auch, weil es die Erzieherin sich auch gern hat und sich trotzdem freut, wenn die Erzieherin sich mit ihm beschäftigt. Aber es ist kein Grinsen im Sinne von „ich habe habe gewonnen“. Nein, das Kind sieht das nicht als Gewinn an, es würde gern der Erzieherin etwas über das Bild erzählen. Allerdings leidet ein 3,5 jähriger da noch nicht so drunter wie ältere Kinder.
– Der Junge redet mit Ihnen aufgrund der humorvollen Situation. Ja, sie sind neu und ihm sympathisch. Mit Humor haben Sie es geschafft, noch bevor sich Angst aufbauen konnte, schon erste Laute möglich sind. Gerade die von Ihnen angeführten Strategien mit Humor und logische Richtigstellung sind genau das, was empfohlen wird. Logische Fehler führen dazu, dass ohne Nachzudenken, spontane Aussagen entstehen, v.a. weiß das Kind dass es anders richtig ist. Damit gewinnt das Kind Vertrauen in sich, reduziert die Angst und kann mehr und mehr mit der Person sprechen. Aber auch hier ist wieder das Ziel, Angst abzubauen bzw. zu versuchen, dass diese gar nicht erst entsteht. Auch das gelingt bei 3,5 jährigen mit solchen Mitteln relativ einfach im Vergleich zu 6 jährigen.
Der aktuell empfohlene Ansatz mit Kindern mit selektivem Mutismus zu arbeiten ist Angst reduzieren, keinen Druck aufbauen und dann das Kind über Laute, einzelne Worte, Wortgruppen, Sätze hin zu offenen Fragen und Meinungen zu führen. Dabei das Kind durchaus fordern, aber immer nur so, dass das Angstniveau nicht wieder steigt. All das funktioniert bei den meisten Kindern (und gerade bei 3-4 jährigen Kindern ziemlich schnell und sicher) eben gerade weil diese Kinder sprechen möchten! Es geht also gerade nicht darum, Autorität auszuüben oder Druck auszuüben. Es geht darum, Angst zu reduzieren – und wenn diese niedrig genug ist, dann spricht das Kind auch in vielen Fällen. Und man kann hier auch mit Belohnungen wie Gummibärchen arbeiten, und nein, man muss keine Angst haben, dass das Kind dann nur spricht, um etwas zu bekommen. Das Kind wird wahnsinnig stolz sein und glücklich, dass es endlich mit der Erzieherin reden kann.
Ihre Grundannahme, dass das Kind nicht sprechen will, ist einfach falsch. Nur weil jemand etwas prinzipiell kann, aber nicht tut – daraus kann man doch nicht schließen, dass die Person nicht will? Jeder Psychologe wird Ihnen hunderte Beispiele geben können, dass Menschen aufgrund von Ängsten unfähig sind, Dinge zu tun, die sie eigentlich können und wollen.
Aber mit dieser Grundannahme tun Sie dem Kind sehr Unrecht. Und leider verfestigt sich dann bei Eltern und Erziehern genau dieser Gedanke, das Kind braucht mehr Autorität und Konsequenz – und führt damit gerade bei Kindern, die schon 5 oder 6 sind nur dazu, dass sich der selektive Mutismus noch weiter verfestigt und damit noch schwieriger zu behandeln ist.
Jedem Lehrer, Erzieher und Elternteil, die halbwegs englisch können, kann ich nur das „Selective Mutism Resource Manual“ von Maggie Johnson empfehlen (nein, ich habe nichts mit dem Buch zu tun, kenne auch die Autoren nicht und verdiene keinen Cent daran). Aber hier lernt man nicht nur das Bild des selektiven Mutismus wirklich zu verstehen, man bekommt auch einen ganz konkreten Leitfaden an die Hand, wie man Schritt für Schritt selektiven Mutismus bei wohl den meisten Kindern therapieren kann. Und das funktioniert. Man braucht also nicht nicht noch wieder neue Theorien, was es wohl mit selektivem Mutismus auf sich haben könnte und wie man es erzieherisch behandelt. Es ist eine Angststörung und dafür gibt es bereits jetzt ganz handfeste Anleitungen, diesen Kindern zu helfen.
Ihr Beitrag hilft aber leider den Kindern nicht. Und noch schlimmer, er schadet den Kindern, denn er postuliert wieder, dass die Kinder „nicht sprechen wollen“ oder „sich weigern“. Wenn so ein Artikel dann auch noch auf einer Förderdiagnostikseite erscheint, hat man sehr viel Verantwortung. Und ich bitte Sie wirklich zu überdenken, ob Sie sich in diesem Bereich ausreichend auskennen und auch mit neuen Erkenntnissen ausreichend beschäftigt haben, dass es gerechtfertigt ist, hier darüber zu schreiben. Denn es hat Konsequenzen für Kinder, deren Krankheitsbild dann wieder anderen falsch verstanden wird. Diese Krankheit, wenn sie zu lange anhält, ist zu einschränkend für die Kinder, schafft zu viel Leid, als dass ich hier so eine falsche Annahme stehen lassen kann.
Fragen Sie mal ältere Kinder, die selektiven Mutismus hatten, ob diese wirklich nicht sprechen wollten? Ob diese nicht darunter gelitten haben, dass sie es nicht konnten, weil die Angst einfach stärker war? Und wie diese Kinder sich gefühlt haben, wenn man Ihnen aber genau das unterstellt hat? Es gibt Kinder, die gehen nicht auf die Toilette in der Schule, weil sie nicht fragen können – durchaus verbunden mit entsprechenden Unfällen. Es gibt Kinder, die sich in Kindergarten und Schule verletzt haben, aber still und versteckt vor sich hinweinen, weil sie weder laut weinen können (auch das ist Teil von selektivem Mutismus) noch einen Lehrer um Hilfe bitten können. Das verdeutlicht, wie groß und hemmend diese Angst ist zu kommunizieren. Und es zeigt, wie wichtig es ist, dass Selektiver Mutismus bereits im Kindergarten besser erkannt wird und RICHTIG therapiert wird. Denn diese Kinder fallen auch oft nicht auf, außer durch Nichtsprechen. Sie sind gut angepasst, folgen allen Regeln, stören nicht – denn sie wollen ja gerade nicht auffallen. Damit gehen sie dann aber auch leicht unter.
Ich kann hier nur zustimmen: unser Sohn ist 6 Jahre alt und spricht nicht mit Erwachsenen, auch mit den Erzieherinnen nicht mehr, und zwar nicht, weil er nicht WILL, sondern weil er sich „nicht traut“, wie er uns dann sagt. Das ist ein himmelweiter Unterschied. Gerade das ist ja das Problem, dass das Kind häufig nicht selbst verbalisieren kann, warum es mit dem Reden mit Fremden nicht klappt, sich nicht überwinden kann – Trotz, Unwillen, Faulheit, Renitenz oder sonstiges, ist hier absolut auszuschileßen!
Wir machen mit unserem Sohn jetzt eine Verhaltenstherapie, und ich bin heilfroh, dass die Psychologin hier keinen Druck aufbaut, sondern ganz langsam und spielerisch eine Vertrauensbasis schafft, damit er sich schrittweise öffnen kann. Ich bin sicher, schafft er für sich den ersten „Präzedenzfall“ im Sinne von: „ich habe hier oder da mit dem oder den gesprochen, und ich KONNTE es, und es ist nichts Peinliches oder „Schlimmes“ passiert“, wird ihn stärken, von Mal zu Mal eine Selbstverständlichkeit im Reden und verbalen Interagieren zu entwickeln. Aber genau dieses „Pushen“ mit dem Hintergedanken, ich muss ihn nur aus der Reserve locken, dann gibt er schon seine „Unlust“ zu sprechen auf, wirkt bei unserem Sohn stets kontraproduktiv, und zwar nicht aus Trotz seinerseits, sondern aus Frustration darüber, dass er vermeintlich unseren Ansprüchen nicht genügt!
Sehr geehrter Herr oder Frau Roth,
aus schematherapeutischer Sicht kann man das Schweigen als extreme Form eines distanzierten Beschützers betrachten. Dieser beschützt ein verletzbares Kind, das ist möglich – und dann sagt ein Kind auch möglicherweise, es traue sich nicht. Es muss aber nicht nur der Mut zum Sprechen aufgebaut werden, sondern auch der langfristig seelisch schädliche Einsatz eines distanzierten Beschützers abgebaut. Ich sollte den Artikel sicher bei Gelegenheit in der Hinsicht überarbeiten, um auf die differenzierten möglichen Erklärungen für Mutismus einzugehen. Aber missverstehen Sie ihn bitte nicht als Aufforderung zum unangemessenen Druck – das ist er nicht.
Vernachlässigendes oder wechselhaftes, unzuverlässiges Erzieherverhalten sowie erlebte Demütigungen durch Erzieher können eine Ursache für Mutismus als Vermeidungsreaktion sein.
Mutismus kann aber auch ein Überkompensationsverhalten eines verwöhnten Kindes ohne Grenzen sein, in der Überzeugung, etwas Besonderes zu sein und von den allgemeinen Regeln der Höflichkeit ausgenommmen. Durch aktives Schweigen erreicht das Kind dann, dass an es nicht die gleichen Maßstäbe angelegt werden wie an andere, dass es oft eine „Extrawurst“ bekommt im Sinne zusätzlichen Bettelns und sich Bemühens um seine Teilnahme und Aufmerksamkeit. In diesem Fall ist eine Gewöhnung an normale Anforderungen angezeigt und gerade nicht, dem Kind die Wahl zu lassen und es die Situation dominieren zu lassen, denn das würde seine egozentrische, narzisstische Besonderheits-Auffassung nur noch verstärken.
Ich hoffe, das klärt die aufgeworfenen Fragen in alle Kürze etwas näher.
Viele Grüße,
Miriam Stiehler