Typische Lesefehler (1): Drei Schritt vor, zwei zurück – Regression
Wenn Sie die Lesegeschwindigkeit eines Kindes wie beschrieben messen, haben Sie eine wichtige quantitative Information gewonnen, mit der sich Ziele setzen lassen. Wichtig sind aber auch die qualitativen Informationen aus der Beobachtung: Wie liest das Kind? Welche Fehler unterlaufen ihm? Das ist noch recht vage formuliert – man müsste erst einmal wissen, welche Fehler man denn beim Lesen überhaupt machen kann, was sie für die Leseentwicklung bedeuten und wie man sie beheben kann. Darum geht es heute und in den weiteren Teilen des Themas „Lesefehler“, beginnend mit der sogenannten Regression.
Lesefehler Regression
Zur Erinnerung: Mit zunehmendem Lesetempo fixiert der Leser mit den Augen nicht mehr jedes Wort, sondern macht Sprünge („Sakkaden“) über mehrere Wörter hinweg, die dabei als Gesamtheit erfasst werden. Schneller zu lesen beinhaltet, dass man die Blickspanne erweitert, also längere Sakkaden vollbringt. Dabei wird z.B. eine Zeile einer schmalen Zeitungsspalte auf einmal erfasst, bei sehr guten Lesern eine ganze Taschenbuchzeile auf einmal. (Ausführliche Informationen zur Blickspanne beim Lesen hier).
Der Lesefehler der Regression liegt nun vor, wenn die Blickbewegungen nicht mehr nur vorwärts, weiter im Text verlaufen, sondern man stattdessen mit den Augen im Text zurück springt. Über die Regression gibt es widerstreitende Auffassungen in der Fachwelt. Manche Forscher betrachten sie als notwendigen Teil des Leselernprozesses, da sie im ersten Schuljahr stärker vorkommt als in den späteren; andere sehen darin ein Beleg für Regression als Hemmnis, das grundsätzlich überwunden werden muss. Eine differenzierte Betrachtung der Ursachen hilft bei der Klärung.
Regression im weiteren Sinn bedeutet, dass man einen ganzen Abschnitt nicht bewusst gelesen hat und daher an seinen Anfang zurückspringen und ihn erneut lesen muss. Es ist klar, dass sich hier mehrere Faktoren beteiligt sind: ein Mangel an Konzentration, Desinteresse (auch als Hinweis auf mangelndes Vorwissen, unzulängliches Verstehen des Inhalts oder geringe Ansprechbarkeit von Stimmung oder Interessen), unsichere Routine, Müdigkeit… Regression kostet Zeit und hemmt den Fluß des Verstehens, bzw. deutet auf einen gehemmten Fluß hin. Deshalb sollte man sie so weit wie möglich vermeiden. Ältere Schüler bemerken meiner Erfahrung nach mit etwas Instruktion selbst recht zuverlässig, wenn sie einen ganzen Abschnitt „verträumt“ haben, und können das auch benennen und sich selbst zum konzentrierteren, schnelleren Lesen anhalten.
Eine Regression im engeren Sinne ist das Zurückwandern der Augen zum Anfang einer Sakkade oder an einen anderen, früheren Punkt des Leseprozesses, also über relativ kleinen Raum. Leseanfänger machen rund 40 Regressionen auf 100 Wörter, durchschnittliche Erwachsene nur ca. 15 (Kuhn 4/2014, 48). Dass solche Regressionen bei leseschwachen Kindern sehr verbreitet sind, ist schon früh in der Legasthenieforschung aufgefallen (Klicpera 2007, 176). Die oben erwähnte, zwiespältige fachliche Einordnung hat nun folgenden Hintergrund: Kinder machen umso mehr Regressionen, je schwieriger der Text ist. Die Regressionen dienen daher der Korrektur von Lese- und Verstehensfehlern. Nun weiß man als Beobachter aber zunächst nicht: Macht das Kind so viele Regressionen, weil es unaufmerksam ist und jeden Satz dreimal lesen muss, ehe es ihn erfasst? Oder hat das Kind echte Lese-Probleme, kennt es z.B. nicht alle Buchstaben sicher, sieht es die Morphemgrenzen nicht auf einen Blick, hat es einen kleinen Wortschatz, versteht es den Satzbau, die grammatischen Strukturen oder die logischen Zusammehänge im Text nicht?
Insofern ist nicht die Regression selbst der Lesefehler, sondern entweder die Unkonzentriertheit oder ein anderer qualitativer Lesefehler wie oben beschrieben. Die Regressionen sind aber in jedem Fall ein Hinweis darauf, dass eines von beiden vorliegt. Liegt beides gleichzeitig vor, ist diese Differenzierung praktisch von geringer Bedeutung – dann hilft das Vermeiden-Lernen auf jeden Fall. Wenn Sie den Verdacht haben, dass echte Leseprobleme und nicht Unkonzentriertheit die Ursache für die Regressionen sind, würde ich folgende Maßnahmen zur Überprüfung empfehlen:
- Führen Sie einen Test wie den kostenlos erhältlichen ILeA Lesetest mit dem Kind durch, um zu erfahren, welche Buchstaben es nicht sicher automatisiert hat, ob ihm komplexe Zeichenverbindungen Schwierigkeiten bereiten, ob es mit längeren Wörtern noch Schwierigkeiten hat
- Lassen Sie das Kind den Text laut vorlesen und notieren Sie sich wörtlich jede Stockung, um Hinweise auf nicht erkannte bzw. richtig durchgliederte Morpheme oder nicht im Wortschatz des Kindes bekannte Wörter zu erhalten.
- In diesen Fällen sind die Regressionen Folge, nicht Ursache der Leseschwierigkeiten. Wer Schwierigkeiten hatte, beim Vorwärtslesen den Sinn des Textes zu verstehen – sei es aus Wortschatzproblemen, sei es aufgrund unzureichenden Erlesens der Wörter -, wird in der Folge einen Schritt zurückmachen, um das fehlende Verständnis nachzuholen, denn der Rest des Satzes oder Wortes ergibt sonst keinen Sinn.
Wenn Sie sich hingegen sicher sind, dass primär eine Konzentrationsschwäche Ursache für die Regressionen ist, können Sie die SPRITZ-Technik zur Überprüfung verwenden, die wir im nächsten Teil der Reihe vorstellen werden.
Die Schwierigkeit mit der Regression in der Fehleranalyse liegt darin, dass sie von außen nicht leicht zu beobachten ist. Meiner Erfahrung nach kann man zwar durchaus den Aufwand betreiben, eine Videokamera (einfacher: die Kamera eines Smartphones) entsprechend auszurichten und für 1-2 Minuten das lesende Kind zu filmen. Sieht man sich den Film am Computer in Slow Motion an, lassen sich die Sakkaden zählen. Das ist aber in der alltäglichen Unterrichtspraxis kaum machbar. Daher ist meiner Erfahrung nach die Beobachtung von Regressionen in erster Linie eine Selbstbeobachtung. Uns erreichen immer wieder Zuschriften von Erwachsenen, bei denen im Schulalter Legasthenie diagnostiziert wurde und die nun bewusst an ihrer Lesetechnik arbeiten möchten. In diesen Fällen scheint es durchaus praktikabel zu sein, sich die eigenen Regressionen bewusst zu machen, und sich selbst zum konzentrierteren, zügig vorwärtsgerichteten Lesen anzuhalten, um sie zu reduzieren.
Hilfen
Sind die Regressionen Folge mangelhaft automatisierter Buchstaben- oder Morphemerkennung, geringen Wortschatzes o.ä., können solche Übungen flankierend ebenfalls hilfreich sein. Es sollte aber in diesen Fällen z.B. mit Hilfe einer Morphemkartei zum Blitzlesen oder mit der Übung, in einem Text alle Morpheme durch Striche zu trennen, am Kern des Problems gearbeitet werden (z.B. Ver|ständ|nis|problem, ge|les|en, Schiff|brüch|ig|er, Be|hand|lung|s|plan). Auf Buchstabenebene würde ich das IntraAct-Konzept empfehlen
Bei Regressionen aus Unkonzentriertheit habe ich im Training mit Jugendlichen und Erwachsenen gute Erfahrungen mit den Anti-Regressübungen nach Ott gemacht. Es dürfte schwer zu klären sein, ob diese eine spezielle Form von Konzentrationsübungen während des Lesens darstellen oder eine reine Veränderung der Lesetechnik, aber solange sie helfen, Regressionen zu vermindern, erscheint mir auch diese Frage für den Betroffenen von zweitrangiger Bedeutung.
Eine bewusste Regression im Sinn eines hermeneutischen Verstehens hingegen kann durchaus sinnvoll sein: Man liest einen vorherigen Abschnitt ganz bewusst nochmal, um Informationen oder Argumente aus einem späteren Abschnitt gedanklich mit ihm zu verbinden und den vorherigen Abschnitt tiefer und unter einem anderen Aspekt zu verstehen. Die unbewusste und daher sowohl planlose als auch erkenntnisarme Regression aus Unkonzentriertheit hingegen möchte man überwinden. Dazu gibt es viele Möglichkeiten:
Direkt lesebezogene Hilfen:
- gezieltes Anti-Regress-Training (z.B. in „Optimales Lesen“ von Ernst Ott)
- Bewusst mit dem „weichen Blick“ lesen (Eine Technik aus Speed Reading Konzepten, bei denen der Fokuspunkt des Blicks bewusst so verschoben wird, dass ein breiterer Blickbereich zwar etwas weniger scharf („weich“), aber deutlich genug zum Erkennen der Wörter wahrgenommen wird.)
- Gezielt das Erfassen ganzer Zeilen üben (z.B. mit Zeitungen, anpassbarer Darstellung auf Smartphone / Kindle etc.; siehe auch Ott; gutes Hilfsmittel: Ein Set von Karteikarten mit einzelnen Wörtern – zunächst nur kurze, dann immer längere Wörter müssen auf einen Blick erfasst werden. Zahlreiche Speed Reading Apps bieten ebenfalls entsprechende Übungen an.)
Eher auf die äußere Situationsgestaltung bezogene Hilfen:
- Stille Umgebung (Musik aus, Handy aus, TV aus…)
- entspannte, aber nicht schlaffe Haltung
- mehr pflichtbewusste Konzentration: sich zum schnelleren Lesen anhalten
- mehr Konzentration über das Gemüt: Schönheit genießen, empfänglicher dafür werden
- Vorwissen zu Lesebeginn aktivieren und eigene Meinung zu bilden versuchen (umso leichter, je größer das Allgemeinwissen und die Urteilsfähigkeit sind. Und: größeres Allgemeinwissen – größerer Wortschatz)
Buchtipp:
Literatur:
Ott, Ernst: Optimales Lesen. Schneller lesen – mehr behalten. Ein 25-Ta- ge-Programm; Rowohlt, Reinbek, 26/2006
Klicpera, Christian u.a.: Legasthenie. Beltz, Weinheim, 2007.
Kuhn, Birgit: Lesetechniken optimieren. München, 2014.