Warum man mit Wortbausteinen besser lesen lernt als mit Silben
Obwohl Prof. Thomé in seinem Gastbeitrag bereits gut dargelegt hat, inwiefern die Unterteilung in Silben Leseanfängern eher schadet als nützt, scheint die Ablehnung silbenbasierter Leseübungen immer noch erklärungsbedürftig zu sein. Daher möchte ich heute anhand der Situation eines Vorschulkindes, das gerade eingeschult wird, erklären, warum Silben beim Lesenlernen nicht das Mittel der Wahl sind.
Wenn Erstklässler lesen, schleifen sie die Schreibzeichen zu einem Wort zusammen, sprechen es laut aus und hören sich selbst dabei zu. Beim Zuhören bewerten sie, ob sie das Wort wiedererkennen. (Das nennt man die „auditive Schleife“). Wenn ja, verstehen sie es und haben ein Erfolgserlebnis. Wenn nicht, verstehen sie das Gelesene nicht und erleben Frustration.
Wie kann man nun sicherstellen, dass die Kinder möglichst viele Erfolgserlebnisse haben? Dazu müssen sie möglichst oft das gelesene Wort sofort, beim ersten Anlauf, wiedererkennen. Dafür sind drei Dinge notwendig:
- Sie müssen die langen und kurzen Vokale richtig aussprechen, denn sonst wird der Wortklang stark entstellt. (vgl. Eeeenteeee – Ente). Das lernen meine Vorschüler schon im letzten Kindergartenjahr; es sollte in jedem Fall in der 1. Klasse ein wichtiges Thema bei der Erarbeitung der Buchstaben sein. Wie bereits an anderer Stelle erklärt, wird dies in der Praxis nicht selten vernachlässigt. Meine Vorschüler lernen das nach Thomé:
2. Sie müssen den Wortstamm, also den „Kern“ des Wortes, erkennen, um die Hauptbedeutung zu verstehen (in „verkaufen“ wäre das „kauf“, „ver“ ist eine Vorsilbe und „en“ eine Endung.) Verbindungen aus mehreren Buchstaben kennen die Kinder bereits als „Schreibzeichen“. Leicht abweichend von Thomé behandle ich auch die Endung „-er“ als Graphem, da sie einen spezifischen Laut repräsentiert und eine morphologische Funktion hat. Zum Zeitpunkt der Einschulung wissen meine Vorschüler:
3. Damit 1. und 2. routinemäßig gelingen, müssen die Kinder die häufigsten Wortbausteine unserer Sprache richtig aussprechen und als immer wiederkehrende Bausteine erkennen. Das sind die Endungen -er, -en, -el und Vorsilben wie be-, ge-, er-, ver-, un-.
Schließlich ist das [ə] nicht nur für sich genommen, sondern gerade auch wegen seines allgegenwärtigen Vorkommens in Vor- und Nachsilben der häufigste Laut unserer Muttersprache. Es liegt auf der Hand, dass es für Schwierigkeiten im Lesen sorgt, wenn diese extrem häufigen Bausteine falsch gelesen werden: Das sorgt entsprechend für eine hohe Fehlerzahl.
Aus diesen sachlichen Notwendigkeiten kann man erschließen, was umgekehrt beim Lesenlernen eher hinderlich ist.
Nicht hilfreich ist
- das Lesen Buchstabe für Buchstabe statt in Schreibzeichen und Wortbausteinen
- das Lesen in Silben, da diese die Wortstämme unnötig zerteilen, die Endungen aber gerade nicht an der richtigen Stelle abtrennen und zusätzlich ein Dehnsprechen in stets langen Vokalen fördern.
Natürlich müssen neue Buchstaben zunächst einzeln und dann in Verbindung mit 1-2 anderen Buchstaben geübt werden. Besonders am Anfang, wenn erst wenige Buchstaben bekannt sind, kommt man um sehr kurze Wörter oder Pseudowörter nicht herum. Aber selbst bei der Erstellung dieser kleinen Leseaufgaben sollte man eben nicht nur von Silben ausgehen, sondern bereits bedenken, welche Kombinationen für das Deutsche repräsentativ sind. Wichtig ist, schon hier gezielt mit langen und kurzen Vokalen zu arbeiten. Denkt man in Silben, liegt es jedoch nahe, dass man sich auf betonte Silben, also solche mit langen Vokalen konzentriert und die kurzen außer Acht lässt. Anstatt also nur „Mo“, „Ma“, „Lo“, „La“ zu lesen, sähe eine morphemorientierte Übung so aus:
Wenn viele oder alle Buchstaben bekannt sind, wird in der Regel mit ganzen Wörtern geübt. Dann kommt die Zerteilung in Silben so richtig zum Tragen. Dabei ist die Aufteilung in Silben problematisch, weil sie wichtigere andere Eigenschaften der Wörter in den Hintergrund treten lässt.
Ein Beispiel: Das Wort „Kinderschuhe“ enthält folgende Wortstämme (fett) und Endungen, die das Wort gut verständlich gliedern:
„Kind – er – schuh – e“.
Dabei wird das „i“ in „Kind“ kurz gesprochen und die Endungen „er“ und „e“ ebenfalls.
Liest man in Silben, wird daraus:
„Kin –der – schu – he“.
Die Nachteile des Lesens in Silben sind vielfältig:
- Meist sprechen die Schüler dabei alle Vokale lang, obwohl in diesem Wort eigentlich das „u“ der einzige lange Vokal ist. Das entstellt das Wort so, dass es beim Erlesen als „Kiiiiin-deeeeer-schuuu-hee“ schwerer erkennbar wird. Das verringert die Chance auf motivierendes, erfolgreiches Erlesen.
- Zugleich wird verschleiert, dass das Wort „Kind“ am Ende mit „t“ statt „d“ gesprochen wird (später wichtig für die Rechtschreibung: Auslautverhärtung).
- Es wirkt außerdem auf Leseanfänger, als käme das Wort „der“ als Bestandteil vor, was sie zusätzlich verwirren kann. Die kurz gesprochene Endung „er“ hingegen (gesprochen als kurzes [ə] ) kann man nicht mit einem anderen Wort verwechseln.
- Der Umgang mit Wortstämmen und Endungen (wichtig für die Grammatik) wird so nicht gelernt, da die Wortstämme „Kind“ und „Schuh“ zertrennt werden.
- Das in Wirklichkeit stumme h, dass die Länge des u markiert (als uh) wird nun hörbar gesprochen. Das ist nicht nur falsch, sondern schadet ebenfalls der Rechtschreibung, da dieses h als Längenmarker zum „uh“ gehört.
Es ist daher zwar im Trend, aber nicht hilfreich, sogar ganze Leseübungen und Texte farblich in Silben zu zergliedern. Die Sprechsilben haben im Deutschen letztlich nur zwei wichtige Rollen, die den Anfangsunterricht Deutsch noch gar nicht nennenswert betreffen: Silben sind wichtig, um den Rhythmus in Gedichten korrekt zu verstehen – Gedichtanalyse und Metrik werden an der Grundschule auf diesem Niveau aber gar nicht unterrichtet. Das einzige, was Grundschüler betrifft, ist die Worttrennung am Zeilendende. Das ist jedoch eine solche Nebensache verglichen mit dem Lesenlernen, dass das Thema in der 3. bzw. 4. Klasse gut aufgehoben ist.
Wer es nicht glauben möchte, kann gerne einmal den Vergleich machen und seine Schüler probeweise nach dem genannten System üben lassen.
Statt in Silben gegliederte Lesewörter wie hier
zu verwenden, kommen Wörter mit Wortbaustein-Gliederung und Markierung der Längen und Kürzen zum Einsatz:
Man sieht die Wortstämme auf den ersten Blick, und das ist für das erfolgreiche sinnerfassende Lesen viel wichtiger und hilfreicher als die Aufteilung in Silben. Wenn frühzeitig im Leselernprozess gezielt geübt wird, die Endungen korrekt auszusprechen, steigert das nach meiner Erfahrung – gerade auch in der Förderung von Kindern mit didaktogener Leseschwäche – die Anzahl der auf Anhieb verstandenen, also richtig erlesenen Wörter sehr stark.
Sobald der Leselernprozess abgeschlossen ist, also alle Schreibzeichen automatisiert beherrscht werden, wird auf die Markierungen verzichtet. Sie kommen schließlich in ganz normalen Texten auch nicht vor. Ab diesem Zeitpunkt lesen die Kinder ganz normale Texte, so dass man nicht befürchten muss, dass sie das Sprechen in Silben verlernen und später die Trennung am Zeilenende schlechter erlernen. Davon abgesehen dürfte gerade beim Legastheniker jeder froh sein, wenn das Lesen gelingt, während gelegentliche Fehler in der Worttrennung am Zeilenende kaum eine Beeinträchtigung darstellen.
Hallo Frau Stiehler,
ich hoffe, dass ich folgende nicht schon einmal gestellt habe, denn sie kommt mir immer wieder in den Sinn: Gibt es Untersuchungen dazu, in wieweit die Silbendarstellung ggf. sogar den Lesefluss geübter Leser behindert? In unserem Lehrwerk sind auch noch in Klasse 3 und 4 Texte in Silbenschreibung gedruckt. Für mich persönlich habe ich den Eindruck, dass das Lesen dieser Texte anstrengender und weniger flüssig ist.
Lieber Herr Emrich,
ich habe Ihre Frage direkt an Prof. Thomé weitergeleitet und gebe Ihnen seine Antwort gerne weiter, sobald ich von ihn gehört habe!
Herzliche Grüße,
Miriam Stiehler
Wichtig ist , dass man mit Herzblut seine Methode verfolgt. Ich habe nach sämtlichen gängigen Leselernmethoden gelehrt und erst als DAZ Lehrerin zusätzlich erfahren , je mehr man eine Kombination von allem für alle anwendet , Erfolg hat. Besonders da fielen dann Kinder auf , die bei uns die Sprache lernten und mit der eigenen verglichen . Sie hatten in RS weniger Mühe als schweizer Kinder. Muss doch was dran sein. Viel Spass
Danke Ihnen für diesen Text, achwas, die ganze Seite!
Meine Tochter hat die 1. Klasse just abgeschlossen und lernt in der Schule nach dem System mit blauen und roten Silben.
Anfangs zwar etwas skeptisch, lies ich mich doch darauf ein, aber so ganz überzeugt … … das war ich tatsächlich nie. Jetzt weiß ich endlich auch genau warum.
Das meine Tochter, zum Glück unabhängig vom Schulsystem flott im Denken, die farbigen Silben als sehr störend empfindet und darauf nur allzugerne verzichten würde, spricht für sich.
Sie liest auch schon Kinderbuchtexte nahezu perfekt mit erwachsener Betonung (das ist ihr Ding) – habe mal auf Basis ihrer Bewertungsmaßstäbe(DANKE!!) ein vorhandenes Video analysiert mit 110WMP – Schnelllesen eines unbekannten Textes habe ich bisher nicht getestet, mal schauen, ob sie sich darauf einlässt. Endlich kann ich ihre Stärke auch einordnen, Lehrer formulieren ja gerne extrem schwammig. Es ist wie mit dem Übergewicht, der magische Glaube wer sich nicht auf die Waage stelle hätte keines.
In der Hoffnung, dass sich das Sprachzentrum um die inhärente Logik selber kümmert, habe ich ihr selbst immer den Tipp gegeben, sobald sie Wörter „erkennt“, sie auch so vorzulesen, wie sie diese sprechen würde. Denselben Rat gebe ich ihr beim Schreiben – lese viel und schreibe(aus ihren Lieblingsbüchern) ab, damit sich die richtige Schreibweise einprägt. (Sinn und Unsinn von Rechtschreibreformen mal aussen vor).
Tatsächlich schreibt sie entgegen meines Rates gerne aus dem Kopf nach Lauten und dann falsch, was sicher mitunter ein Verschulden des Schulsystems ist. Denn in der Schule wird teilweise sogar mit Nonsense-Wörtern geschaut, ob das Kind auch wirklich Silben gelernt hat zu lesen, statt die Wörter und deren Schreibweise einfach wiederzuerkennen (bzw. wie Sie ja noch besser sagen, die „Wortbestandteile“) . Dazu wird mit Stoppern und Klingern den Kindern etwas beigebracht, was ich selber nicht mal kannte, um die sich auftuenden Löcher zu stopfen.
Sie brechen es hingegen logisch auf die der Sprachlogik innewohnenden Wortbestandteile herunter. Danke dafür.
Hier sehe ich es im Übrigen wie in ihrer Erklärung zu den Rechenschwächen, die Aufgabe der Kinder besteht doch im Wesentlichen darin, die dahinterstehende Logik zu bewältigen, und das ermöglicht dann ein fließendes Lesen. Statt sich von Silbe zu Silbe zu hangeln und dadurch im demotivierenden Langsamlesen festzustecken.
Jetzt habe ich es endlich:
Silben lernen ist wie das Abzählen beim Rechnen: eine Krücke die das systematische Denken behindert.
Sonn e und Sonn tag
das macht Sinn, statt
Son ne und Sonn tag
oder sollte es nach diesem kruden System nicht viel besser Son tag geschrieben werden?
Beste Grüße
Lars Götze
PS:
Zur Einordnung meiner Einschätzung:
Als Illustrator beschäftigte ich mich seit Jahren intensiv mit der Logik und dem System der Bildsprache, dazu bin ich stark mathematisch geprägt (kann u.a. auch den Rubik-Cube lösen [ohne Internetanleitung, dass muß man heutzutage wohl dazu sagen]), habe mir das Musizieren nach attestierter Unmusikalität nach der Schule doch noch beigebracht und lerne aktuell Chinesisch, gerade auch weil viele behaupten, es sei viel zu schwer mit abertausenden von Schriftzeichen – aber auch hier gilt wieder: Wer bereit ist die Logik der neuen Sprache auf sich wirken zu lassen, wird erkennen, dass es viel leichter ist als gedacht.
Wie oft und überall – falsche Vorannahmen und Lernsysteme die dem Lernstoff übergestülpt werden, statt sich wie von selbst aus dem Lernstoff herauszukristallisieren.
Lieber Herr Götze,
wow! Solche Kommentare freuen uns riesig und motivieren uns, am Blog weiter zu arbeiten, obwohl in der „praktischen“ Arbeit in Zeiten wie diesen der Kalender schon überquillt. Ich freue mich wirklich enorm, dass unsere Texte offenbar verständlich sind und sich von Eltern in eigene Worte fassen und in den Alltag übertragen lassen. Danke für diese tolle Rückmeldung! Wir wünschen Ihnen und Ihrer Tochter ganz viel Freude und Erfolg beim Lernen!
Eine neugierige Frage noch: Was für Bücher illustrieren Sie denn? Ich liebe Kinderbücher und habe auf meiner Praxisseite unter https://www.dr-stiehler.de/lesen-bildet/ vor längerer Zeit eine Sammlung begonnen, die aber mangels Zeit sehr langsam wächst… Ich bin gespannt von Ihnen zu hören!
Herzliche Grüße,
Miriam Stiehler