Was tragen Schreibübungen zur Lernerziehung bei?
Man sollte nicht unterschätzen, welche Effekte Schreibübungen in allen drei großen Erziehungsbereichen haben: gegenüber dem Willen, den Antrieben und dem Gemüt (ein alter, aber guter Begriff, siehe Paul Moor).
Wille:
Mit jedem Strich übt das Kind Selbststeuerung. Es muss sich bei jedem Strich sagen „Hier muss ich anfangen…“ und „Stop, hier muss ich aufhören.“ Tut es das richtig, dann entstehen nicht nur saubere Striche. Es hat dabei gelernt, eine von außen gesetzte Norm oder Regel zu akzeptieren, eine Verpflichtung einzugehen. Wenn es die auch einhält, also den Strich da enden lässt, wo die Vorlage es anzeigt, hat es zudem geschafft, sich selbst zu gehorchen. Das ist der Grundprozess aller Willenserziehung.
So entsteht außerdem gesunde Selbstkritik. Am deutlichsten zeigt sich dies, wenn ein Kind von sich aus einen Fehler ausradiert und ihn ganz nüchtern verbessert. Dann hat es gelernt, sich mit einer Norm oder einem Ideal zu vergleichen, den Unzulänglichkeiten der eigenen Arbeit ins Auge zu sehen und das als etwas Alltägliches und als Gelegenheit zur Verbesserung anzunehmen.
Antriebe:
Während ein Kind arbeitet, regen sich in ihm eine Menge Antriebe und Wünsche, die es aber erst dann befriedigen darf, wenn die Arbeit erledigt ist: Es möchte aus dem Fenster schauen, etwas naschen, mit dem Mäppchen spielen… Wie die Forschungen von Walter Mischel („Der Marshmallow-Effekt“) seit Jahrzehnten zeigen, haben Kinder, die schon im Vorschulalter zu diesem Bedürfnisaufschub ohne Selbstmitleid oder Aggression in der Lage sind, als Erwachsene eine wesentlich stabilere Lebensführung (bezüglich Beruf, Familie, Gesundheit etc.).
Die Sachlichkeit, die man von einem schulreifen Kind erwartet, ist nur möglich, wenn die Antriebe wie Moor sagt „warten gelernt“ haben und „befriedet“ sind, anstatt dauernd nach „Befriedigung“ zu drängen. Impulsivität ist das Gegenteil davon; wer impulsiv ist, agiert jeden Antrieb aus. Da das Schreiben ein zentraler Lerninhalt ist, verbindet sich beim Schreiben üben lebenswichtiger Schulstoff mit lebenswichtigen Erziehungsaufgaben. Ein Grund mehr, hier Geduld und Zeit zu investieren.
Gemüt:
In unserer schnelllebigen Zeit haben Kinder sehr vielfältige Möglichkeiten, kurzfristig Spaß zu erleben, Unlust zu vermeiden und ihre Bedürfnisse impulsiv zu befriedigen. Sie müssen dafür selbst nicht einmal viel tun, sondern können sich unterhalten und „bespaßen“ lassen. Echte Freude hingegen bedeutet, dass eine objektiv anstrengende Tätigkeit einen trotz dieser Anstrengung beschenkt und glücklich macht. Die kann aber nur entstehen, wenn man überhaupt empfänglich ist für weniger grelle Reize und wenn man etwas gründlich kennenlernt. Die Befriedung der Antriebe macht frei dafür, bei der Sache zu bleiben und die Schönheit einer kleinen graphischen Zeichenübung oder später die Schönheit eines Gedichts überhaupt zu bemerken. Die Ausdauer und Beherrschung, die durch regelmäßige und längere Übung erreicht wird, ermöglichen es, das Schreiben gründlich kennenzulernen. Wer gerne schreibt, findet leichter Freude am Lernen.
Übrigens bewirkt all dies zusammen exakt die Konzentration, die vielen Kindern fehlt: Wer einer Ablenkung nicht nachgibt, sondern seine abebbende Aufmerksamkeit weiterhin aufrecht erhält, weil er Freude an der Arbeit hat oder pflichtbewusst ist, konzentriert sich.
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