Einfach mal hängen lassen und auf mañana warten? Nein – auf Leseförderung zu verzichten, ist nicht neutral, sondern richtet Schaden an. Das haben die Daten, die ich im vorhergehenden Artikel vorstellte, gezeigt. Nachlässigkeit oder pädagogische Irrtümer dürfen nicht dazuführen, dass man die Leseentwicklung einfach so „laufen lässt“ und das Beste hofft. Man wird nicht von selbst zu einem Bücherliebhaber. Warum das für die verschiedenen Schülergruppen so gravierend ist, erläutere ich heute im Detail anhand der Daten aus der vorgestellten Untersuchung.

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Hier nocheinmal die Lesegeschwindigkeiten der Schüler zu den 23 gemessenen Zeitpunkten:

Durchschnitt

25. Perzentil

75. Perzentil

1. Klasse Winter

23

12

47

1. Klasse Frühling

53

28

82

2. Klasse Herbst

51

25

79

2. Klasse Winter

72

42

100

2. Klasse Frühling

89

 61

117

3. Klasse Herbst

71

44

99

3. Klasse Winter

92

62

120

3. Klasse Frühling

107

78

137

4. Klasse Herbst

94

68

119

4. Klasse Winter

112

87

139

4. Klasse Frühling

123

98

152

5. Klasse Herbst

110

85

139

5. Klasse Winter

127

99

156

5. Klasse Frühling

139

109

168

6. Klasse Herbst

127

98

153

6. Klasse Winter

140

110

167

6. Klasse Frühling

150

122

177

7. Klasse Herbst

128

102

156

7. Klasse Winter

136

109

165

7. Klasse Frühling

150

123

177

8. Klasse Herbst

133

106

161

8. Klasse Winter

146

115

173

8. Klasse Frühling

151

124

177

Was zeigen diese Daten im Einzelnen?

  • Durch die langen amerikanischen Sommerferien wird diese Leistung in der 7. und 8. Klasse mehrmals wieder schlechter, so dass man nicht einmal in der 8. Klasse von einem dauerhaft erreichten Plateau mit 150 WPM sprechen kann. Zum Ende der 8jährigen Pflichtschulzeit ist also nicht einmal gesichert, dass der Durchschnitt der Schulabgänger für den Rest ihres Lebens genussvoll und effizient lesen kann.
  • Ab dem Frühling der 6. Klasse ist bis zum Ende der Schulzeit keine nennenswerte Steigerung für die durchschnittlichen Schüler mehr erkennbar. Sie schwanken in ihren Leistungen, erreichen aber nicht dauerhaft ein höheres Niveau.
  • Genauso ergeht es den schwächeren und stärkeren Lesern: Auch sie stagnieren letztlich auf dem Niveau, das sie im Frühling der 6. Klasse erreicht hatten.
  • Etwa die Hälfte der Schüler erreicht nicht einmal nach 8 Schuljahren die sinnvolle Lesegeschwindigkeit von 150 WPM. Etwa ein Viertel der Schüler bleibt dauerhaft unter einer Lesegeschwindigkeit von etwa 120 WPM. Das bedeutet, dass diese Schüler nie mit Leichtigkeit Fragen zu einem Text beantworten können, da das Erlesen noch große Anstrengungen erfordert. Es ist daher unwahrscheinlich, dass dieser Teil der Schüler zum Vergnügen lesen wird.
  • Wie schlimm es unterhalb des 25. Perzentils aussieht, zeigen die Daten uns nicht. Aber man muss sich bewusst machen, dass vom 25. Perzentil die lern- und geistig behinderten Schüler noch gar nicht betroffen sind. Es sind also keine schweren kognitiven Beeinträchtigungen, die zum schlechten Abschneiden der Kinder am 25. Perzentil geführt haben!
  • Auch die guten Leser profitieren nicht von ihren letzten zwei Schuljahren, und sie bleiben insgesamt hinter ihren Möglichkeiten zurück. Sie erreichen immerhin zuverlässig die Schwelle von 150 WPM in der 5. Klasse und fallen auch nicht mehr hinter sie zurück. Aber es ist besorgniserregend, dass nur 25% der Schüler zuverlässig an oder über dieser Grenze liegen.

Didaktisch besonders interessant ist die Frage, wie der Verlauf sich in den ersten Jahren gestaltet. Bereits im Winter der ersten Klasse lesen die Kinder am 75. Perzentil fast vier mal so schnell wie die Kinder am 25. Perzentil. Das hat u.a. mit der vorschulischen Bildung zu tun: Wer bereits alle Buchstaben kennt und das Prinzip des Erlesens verstanden hat, wird sein Lesetempo gerade initial auch bei wenig Übung rascher steigern. Aber auch die Intelligenz und die familiären Bedingungen wirken sich hier aus.

Es dauert etwa anderthalb Jahre, bis sich beide Gruppen annähern und die Kinder am 75. Perzentil nur noch doppelt so schnell lesen wie die am 25. Perzentil. Im Lauf der Zeit verringert sich der Unterschied weiter, bleibt aber deutlich. Es ist erstaunlich, dass die guten Leser ihren Vorsprung nicht weiter ausbauen. Sowohl die langsame Aufholjagd der schwächeren als auch die Stagnation der stärkeren Schüler deutet auf wenig gezielte Förderung und zu wenig Lesezeit, zu wenig Automatisierung hin.

Solche Verläufe zeigen, dass die schulische Praxis ohne gezielte Förderdiagnostik (z.B. durch regelmäßige Messung der Lesegeschwindigkeit und anschließendes Lesetraining) ein äußerst unbefriedigendes Mittelmaß erzeugt. Das bringt Schüler um ihre Entfaltungsmöglichkeiten. Wenn die Absicht ehrlich gemeint ist, dass Schule mündige Bürger hervorbringen soll, dann muss der Unterricht Schüler befähigen, mehr als nur die Überschriften der Boulevardpresse ohne Anstrengung zu lesen.

Weiterlesen:

Dieser Artikel ist Teil einer Reihe. Alle Teile des Themenblocks „Lesegeschwindigkeit“ finden Sie, wenn Sie dieses Schlagwort im Suchfeld eingeben, oder über folgende Liste:

Teil 1: Warum sollte man 150 Wörter pro Minute lesen können?

Teil 2: Wie schnell sollte ein Kind in welchem Schuljahr lesen?

Teil 3: Flüssig lesen kommt von selbst – oder?

Teil 4: Was passiert ohne Leseförderung?

Teil 5: Wie misst man die Lesegeschwindigkeit (WPM) sinnvoll?

Teil 6: Was sagt ein Lesegeschwindigkeits-Test aus?

Teil 7: Warum liest mein Kind zu langsam?

Teil 8: Wie lesen Leseanfänger?