Lernen geht nur zusammen mit dem Gedächtnis und Lernen wird leichter gemacht, wenn der Unterricht auf die Struktur und Funktionsweise unseres Gedächtnisses Rücksicht nimmt. Lernprozesse lassen sich besonders effektiv gestalten, wenn Lehrende und Lernende das Gedächtnis möglichst gut kennen. Aus der Forschung ist hinlänglich bekannt, dass vor allem das Arbeitsgedächtnis beim Lernen, also beim Behalten und Erinnern, eine herausragende Rolle spielt. 

„Das“ Gedächtnis gibt es nicht

Beschäftigt man sich ein wenig mit dem Gedächtnis, fällt einem schnell auf, dass es das Gedächtnis als solches nicht gibt, sondern es besteht vielmehr aus zahlreichen gut unterscheidbaren Prozessen. Und je nachdem, aus welcher Perspektive wir auf das Phänomen Gedächtnis blicken, werden andere Prozesse und Strategien erkennbar. Die bekannteste Perspektive ist die zeitliche, die den Verlauf von der Reizaufnahme und ersten Reizverarbeitung im Kurzzeitgedächtnis bis hin zur dauerhaften Speicherung im Langzeitgedächtnis beschreibt. 

Das Kurzzeitgedächtnis versetzt uns in die Lage, Informationen für kürzere Zeiträume geistig verfügbar zu halten. Seine Teilsysteme und Teilprozesse – sensorisches Gedächtnis und Arbeitsgedächtnis – sind im Gegensatz zum Langzeitgedächtnis nicht nur zeitlich, sondern auch von ihrer Aufnahmekapazität her begrenzt. Darüber hinaus funktionieren sie auch noch modalitätsspezifisch, was bedeutet: für unterschiedliche Sinnesinformationen existieren unterschiedliche Festhalte- und Verarbeitungsprozesse. 

Kein Kino ohne Ultrakurzzeitgedächtnis

Das Ultrakurzzeit- oder sensorische Gedächtnis scheint in den Sinnesorganen selbst eingelagert zu sein und repräsentiert die sensorischen Informationen nur für wenige hundert Millisekunden. Ohne diese „Trägheit“ des Ultrakurzeitgedächtnisses wären Reize nur solange zu hören und zu sehen, wie sie tatsächlich vorhanden sind und die vielen Einzelbilder auf einem Filmstreifen könnten zum Beispiel niemals zu einem ununterbrochen ablaufenden Film verschmelzen. Dieses extrem kurze Festhalten der Informationen quasi in den Sinnesorganen reicht jedoch aus, um zusammen mit der selektiven Aufmerksamkeit eine erste Reizauswahl zu treffen. Ankommende, als wichtig bewertete Informationen werden im Arbeitsgedächtnis weiterverarbeitet oder über Konsolidierungsprozesse direkt im Langzeitgedächtnis abgelegt. Andere Informationen werden als unwichtig aussortiert und sofort wieder vergessen, ohne dass sie die Chance erhalten, in unser Bewusstsein vorzudringen.

Kein Diktat ohne Arbeitsgedächtnis

Mit Hilfe des Arbeitsgedächtnisses können nicht nur mehrere Informationen festgehalten, sondern gleichzeitig auch zueinander in Beziehung gesetzt werden. Diese Fähigkeit erweist sich als äußerst nützlich, wenn beispielsweise ein gesprochener Satz verstanden werden soll, dessen Anfang erst dann vollständig verarbeitet werden kann, wenn auch der Schluss bekannt ist. Oder beim Diktatschreiben benutzen wir unser Arbeitsgedächtnis wie eine Art Durchlauferhitzer. Wir nehmen einen Satz auf, halten ihn solange im Arbeitsgedächtnis parat bis wir ihn aufgeschrieben haben, leeren das Arbeitsgedächtnis, um den nächsten Satz aufzunehmen und ihn wiederum kurzfristig festzuhalten, bis wir auch diesen niedergeschrieben haben und so fort.   

Bereits seit Beginn der 70er Jahre gehen die Neuropsychologen von einem Mehrkomponentenmodell des Arbeitsgedächtnisses aus, das aus zwei modalitätsspezifischen Speichersystemen, der phonologischen Schleife und der visuell-räumlichen Wiederholungsschleife sowie der zentralen Exekutive, einer Art zentralen Kontrollinstanz, besteht. Das Arbeitsgedächtnis hält also bestimmte Informationen über einen kürzeren Zeitraum in der phonologischen und visuell-räumlichen Schleife verfügbar, um kognitive Aufgaben mit Hilfe der zentralen Exekutive zu bewältigen. Im Arbeitsgedächtnis werden also nicht nur Informationen gespeichert, sondern je nach Aufgabe werden die verfügbaren Informationen auch bewertet. Wenn nötig, fordert das Arbeitsgedächtnis weitere Informationen über die Sinneskanäle an oder ruft welche aus dem Langzeitgedächtnis ab.

Keine Mathematik ohne Arbeitsgedächtnis: aktuelle Sinneseindrücke mit Vorwissen verknüpfen

So verbinden wir im Arbeitsgedächtnis unsere momentanen Wahrnehmungen mit dem Wissens- und Erfahrungsschatz, der bereits in unserem Langzeitgedächtnis gespeichert ist. Eine Kopfrechenaufgabe ist zum Beispiel nur zu lösen, wenn die einzelnen Elemente der Aufgabe solange im Arbeitsgedächtnis zur Verfügung stehen, bis die Rechenoperation durchgeführt ist. Die Rechenaufgabe wird wahrgenommen, im Arbeitsgedächtnis kurz gespeichert und gleichzeitig wird das Lösungswissen im Langzeitgedächtnis aktiviert und auf die spezifischen gemerkten Elemente der Rechenaufgabe angewandt. Beim Diktatschreiben wird der diktierte Satz aufgenommen und mit der phonologischen Schleife solange festgehalten, bis die zentrale Exekutive unter Rückgriff auf Buchstaben- und Rechtschreibwissen im Langzeitgedächtnis geklärt hat, wie das Gehörte zu schreiben ist. Dann werden noch die bereits vorhandenen Bewegungsabläufe zum Schreiben, die ebenfalls im Langzeitgedächtnis bereitliegen, dazu geholt, und der Satz kann aufgeschrieben werden. Somit lassen sich Arbeits- und Langzeitgedächtnis nicht mehr als eindeutig und klar voneinander getrennte eigenständige Strukturen verstehen, die im Informationsverarbeitungsprozess einfach aufeinanderfolgen, sondern im Arbeitsgedächtnis greifen Prozesse der Informationsverarbeitung und solche der langfristigen Speicherung ineinander.

Immens wichtig, um schreiben und rechnen zu lernen

Wie überaus wichtig das Arbeitsgedächtnisses für das Lernen des Schreibens und Rechnens der Schule ist, konnten Würzburger Wissenschaftler rund um Wolfgang Schneider mit einer neueren Forschungsmethode, der Pfadanalyse, nachweisen. Sie untersuchten das Arbeitsgedächtnis von Vorschulkindern mit folgenden Aufgaben:

  • Vorgesprochene Zahlenreihen nachsprechen (phonologische Schleife),
  • Positionen einzelner Bildchen auf einer gerasterten Karte merken und auf einem leeren Raster die entsprechenden Positionen wiedergeben (visuell-räumliche Schleife)
  • Vorgesprochene Zahlenreihen rückwärts nachsprechen (zentrale Exekutive).

Am Ende des ersten Schuljahres überprüften sie dann die schulischen Leistungen im Rechtschreiben und Rechnen. Als sie die Qualität des Arbeitsgedächtnisses im Vorschulalter mit den schulischen Leistungen über statistische Korrelationen in Beziehung setzten, ergaben sich keinerlei systematische Zusammenhänge. Erst als sie die ebenfalls von ihnen bei den Kindern erfassten Vorläuferfertigkeiten (phonologische Bewusstheit, Wissen über Zahlen und Mengen) in eine Beziehungs- oder Korrelationskette einbauten, entstand ein signifikanter Pfad, der die Bedeutung des Arbeitsgedächtnisses sichtbar machte. Denn die Kinder, die bereits im Vorschulalter über ein gutes Arbeitsgedächtnis verfügten, hatten auch eine gut entwickelte phonologische Bewusstheit und mit Hilfe dieser phonologischen Bewusstheit fiel ihnen dann der Schriftspracherwerb in der Schule wesentlich leichter. Ein entsprechender Pfad ließ sich auch über die phonologische Bewusstheit und Zahlen- und Mengenkompetenzen beim Rechnen nachweisen.

Fleißig gelernt und trotzdem in der Prüfung nichts abrufen können? Vielleicht liegt es am intermediären Gedächtnis

Ebenfalls für Lernprozesse besonders interessante ist das intermediäre Gedächtnis.  Es wird als Struktur zwischen den beiden „Medien“ Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis verstanden, die entscheidend mithilft, kurzfristig aufgenommene Informationen in längerfristig festgehaltene zu transformieren.

Lehrkräfte von lernbeeinträchtigten Schülern beobachten immer wieder, dass Kinder Lerninhalte aufnehmen und mit ihnen arbeiten, jedoch diese am nächsten Tag oder nach dem Wochenende überraschenderweise wieder vergessen haben. Das Kurzzeitgedächtnis scheint bei ihnen zu funktionieren, aber die Konsolidierung im Langzeitgedächtnis und der Abruf von dort gelingen nur mit Mühe oder gar nicht. Interessanterweise werden ähnliche Beobachtungen von Korsakow-Patienten berichtet: Ihr Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis scheint meist völlig intakt und sie verhalten sich situativ orientiert; sie sind in der Lage, kleine Rechenaufgaben im Kopf auszuführen, Fragen zu beantworten und sich zu unterhalten. Aber schon eine Stunde später wissen sie nicht mehr, dass sie gerechnet oder sich unterhalten haben und worüber gesprochen wurde. Die langfristige Speicherung für sich alleine scheint ebenfalls von der Störung nicht betroffen. Die Patienten erinnern sich uneingeschränkt an Fakten und Erlebnisse aus der Zeit vor der Erkrankung. Lediglich die Konsolidierungsprozesse (dauerhaftes Festhalten kurzfristig gespeicherter Informationen)  sind instabil oder funktionieren kaum mehr. Bei Korsakow-Patienten werden in der einschlägigen Literatur hirnorganische Veränderungen im Bereich des limbischen Systems (Amygdala, Hippocampus) berichtet. Auch Tierexperimente sowie Studien bei Patienten mit amnestischen Syndromen weisen auf die Beteiligung von Strukturen des limbischen Systems an der Übertragung neuer Informationen ins langfristig speichernde Gedächtnis hin.

Gedächtnis und Gefühle

Diesen subcorticalen, phylogenetisch älteren Hirnstrukturen wird von jeher eine enge Beziehung zu unseren Gefühlen zugeschrieben. Sie versehen alle aufgenommen Informationen mit einer emotionalen Färbung. Dieselben Strukturen des limbischen Systems, die bei Konsolidierungsvorgängen bedeutsam sind, stehen also gleichzeitig auch in engem Zusammenhang mit der Steuerung unserer Emotionen. Die Vermutung liegt somit nahe, dass gerade die Überführung von kurzfristig gespeicherten Informationen ins Langzeitgedächtnis eng mit der emotionalen Gestimmtheit verbunden ist. Die alte pädagogische Weisheit, dass eine positive Motivation und Freude am Lernen Lernprozesse positiv beeinflussen, erhält auf diese Weise eine neuropsychologische Bestätigung und Erklärung. Auf diesen Zusammenhang verweist auch die Geschichte, die von einem Psychiater erzählt wird, der einen Korsakow-Patienten behandelte. Während eines Gesprächs mit diesem Patienten hielt besagter Psychiater eine Stecknadel zwischen Zeige- und Mittelfinger und stach damit seinen Patienten völlig unvermittelt in die rechte Hand. Beide verloren kein weiteres Wort über diesen Vorgang und verabschiedeten sich. Am nächsten Tag kam der Korsakow-Patient erneut zum Gespräch, erkannte weder den Psychiater noch den Raum wieder, nahm aber, als er den Psychiater sah, die rechte Hand ruckartig auf den Rücken. Danach befragt, warum er das tue, konnte er keine Erklärung dafür geben und war selbst von seiner Reaktion überrascht. Die einzige Information, die bei diesem Korsakow-Patienten anscheinend ins Langzeitgedächtnis gelangte, war die Emotion Schmerz. Alles andere blieb lediglich im Kurzzeitspeicher und wurde nicht konsolidiert und damit wieder vergessen. Die Schlussfolgerung, emotionale Gestimmtheit beeinflusse vor allem das langfristige Behalten, wurde bereits durch Belohnungsexperimenten bei Affen gestützt. Man fand in diesem Zusammenhang opiathaltige Fasern, die von der Amygdala im limbischen System zu den Sinnessystemen verlaufen, wo sie vermutlich eine Wächterfunktion übernehmen. Indem sie als Antwort auf Gefühlszustände bestimmte Opiate freisetzen, nehmen sie Einfluss auf das, was wahrgenommen und gelernt wird.

Was lernen wir daraus für unser Lehren und Lernen? 

Das Gedächtnis besteht aus einer Vielzahl von integrierten Strukturen und Prozessen, die bei jedem Menschen in unterschiedlicher Qualität entwickelt sind. Es ist also zweifelsfrei von Vorteil für einen Lernenden, zu wissen, wie er sich Details und deren Zusammenhänge am besten einprägen und merken kann. Individuelles Unterrichten und Lehren in heterogenen Gruppen setzt ebenfalls und in besonderer Weise das Wissen um das individuelle Funktionieren der Gedächtnissysteme von Schulkindern voraus. 

Das Arbeitsgedächtnis ist an zentraler Stelle an allen unseren Lernprozessen beteiligt und sollte bereits im Vorschulalter spielerisch trainiert werden. Auf diese Weise wird den Kindern der Erwerb der sogenannten Kulturtechniken in der Schule erheblich erleichtert. Lernmotivation, Lernbereitschaft, Anstrengungsbereitschaft, Freude am Lernen, Neugierig-sein, all das aktiviert das „intermediate memory“ und unterstützt die feste Verankerung neuer Lerninhalte im Langzeitgedächtnis.

Literatur

Breitenbach, E, (2019): Vom Behalten zum Erinnern – Wie funktioniert unser Gedächtnis? In: behinderte menschen 41(4/5), 51-57.

Pitsch, H-J. u. Limbach-Reich, A. (2019): Lernen und Gedächtnis bei Schülern mit kognitiver Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer.