Wie hilft ein gutes Arbeitsgedächtnis beim Rechnen?
Wenn man rechenschwache Kinder fördert, setzt man klassischerweise beim mathematischen Vorwissen an. Das ist in aller Regel auch richtig. Aber nicht allen Kindern hilft das in ausreichendem Maße. Circa 5 Prozent eines Jahrgangs gelten als Nonresponder, die eine intensivere und breiter angelegte Förderung brauchen.
Das Arbeitsgedächtnis ist für viele Lernbereiche relevant. Daher stellt sich die Frage, ob man es nicht gerade bei Nonrespondern in die intensive mathematische Lernförderung integrieren sollte. Leider gibt es bislang trotz zahlreicher Studien kein einheitliches Bild über die Wirksamkeit von Interventionsmaßnahmen zum Training des Arbeitsgedächtnisses.
Welche Rolle ein Arbeitsgedächtnistraining in der mathematischen Lernförderung spielen könnte, versuchen Sarah Schulze und Jan Kuhl von der Technischen Universität Dortmund in ihrem Fachartikel „Integration von Arbeitsgedächtnistrainings in die mathematische Lernförderung“ (2019) herauszufinden. Dazu recherchieren sie zunächst die Zusammenhänge zwischen Arbeitsgedächtnisfunktionen und dem Rechnen (Hierüber berichte ich in diesem Artikel, Teil 1). Anschließend befassen sie sich mit den Erkenntnissen zur Wirksamkeit von Trainings, die bereits Arbeitsgedächtnisressourcen berücksichtigen (Diese Ergebnisse stelle ich in Teil 2 dieser kleinen Reihe vor).
Das Arbeitsgedächtnis und seine Teilfunktionen
Um die Untersuchungsbefunde der Autoren verstehen zu können, müssen wir uns erst noch einmal das kognitive System Arbeitsgedächtnis näher ansehen. (Siehe dazu auch diese Artikelreihe zum Arbeitsgedächtnis). Wir erinnern uns: Das Arbeitsgedächtnis dient der kurzfristigen Speicherung und Verarbeitung von Informationen und ist damit an sämtlichen kognitiven Prozessen beteiligt. Das für pädagogisch-psychologische Untersuchungen bevorzugte Mehrkomponentenmodell des Arbeitsgedächtnisses unterscheidet
- die zentrale Exekutive als Steuerzentrale
- als erstes modalitätsspezifisches Untersystem die phonologische Schleife (Verarbeitung und Speicherung sprachlicher und akustischer Informationen)
- und als zweites Untersystem die visuell-räumliche Wiederholungsschleife oder dern visuell-räumlichen Notizblock (Verarbeitung und Speicherung visuell-räumlicher Informationen).
Bei der zentralen Exekutive handelt es sich wiederum um ein mehrdimensionales Konstrukt, das drei verschiedene Kontroll- und Steuerprozesse voneinander abgrenzt: Updating, Inhibition und Shifting.
- Updating meint das gleichzeitige Aufrechterhalten und Manipulieren von Gedächtnisinhalten, wie es zum Beispiel beim Zahlennachsprechen rückwärts erforderlich ist. Dem Kind wird eine kurze Zahlenreihe vorgesprochen, die es sich merken (Aufrechterhalten) und in umgekehrter Reihenfolge wiedergeben soll (Manipulieren). Die gleiche Funktion wird benötigt, wenn man Zahlen der Größe nach ordnen soll oder sich eine Rechnung und ihre Lösung merken muss.
- Shifting bezeichnet die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit von einer Anforderung schnell auf eine andere zu verschieben, also zwischen unterschiedlichen Anforderungen zu wechseln. Dazu muss ein Kind z.B. dann in der Lage sein, wenn es abwechselnd Additions- und Subtraktionsaufgaben lösen soll .
- Inhibition bezieht sich auf die Fähigkeit, eine automatische oder dominante Reaktion zu hemmen. Diese benötigt ein Kind, um zum Beispiel Farb-Wort-Interferenz-Aufgaben zu lösen. Es soll Farbnamen lesen, wobei rot in blauer Schrift, gelb in grüner, blau in gelber Schrift usw. gedruckt ist. Oder es wird aufgefordert, die Farbe von Früchten auf einer Bildkarte zu nennen. Die Pflaume ist jedoch gelb, die Zitrone blau, die Kirsche grün usw. abgebildet.
Für Textaufgaben und Rechnungen ist das AGD wichtiger als für Geometrie
Grundsätzlich wurden für alle oben genannten Funktionen des Arbeitsgedächtnisses Zusammenhänge mit mathematischen Fähigkeiten nachgewiesen. Allerding zeigen die Studien auch, dass diese Zusammenhänge vom Alter der Kinder und vom Aufgabentyp abhängen. Größte Zusammenhänge werden berichtet bei Textaufgaben und einfachen Rechenaufgaben, schwache hingegen nur bei geometrischen Aufgaben. Stärkste Zusammenhänge ergeben sich bei Kindern, die sowohl im rechnerischen als auch im schriftsprachlichen Bereich ihre Schwierigkeiten haben. Kinder mit isolierten Rechenstörungen scheinen ausschließlich Defizite in der visuell-räumlichen Wiederholungsschleife aufzuweisen.
Ein starkes AGD bedeutet zugleich größeres Vorwissen im Kindergartenalter
Weitere interessante Zusammenhänge zeigen sich, betrachtet man die Vorhersagekraft des Arbeitsgedächtnisses für die Entwicklung mathematischer Fertigkeiten. Im Gegensatz zu einem direkten Einfluss auf Rechenprozesse zeigt sich hier ein indirekter über die Vorläuferfertigkeiten. Die Qualität des Arbeitsgedächtnisses beeinflusst den Erwerb von Vorläuferfertigkeiten und Vorwissen und diese wirken sich wiederum auf den weiteren Lernerfolg in Mathematik aus. So lassen sich die Mathematikleistungen in der dritten Klasse recht verlässlich vorhersagen, in dem man die im Alter von 5 Jahren erfasste visuell-räumliche Wiederholungsschleife betrachtet. Relevant scheint diese insbesondere beim Vergleichen von Mengen zu sein. Die phonologische Schleife hingegen spielt beim Erwerb der exakten Zahlenfolge eine wichtige Rolle. Konzentriert man sich in der Forschung auf die Bedeutung der zentralen Exekutive für den Erwerb mathematischer Basiskompetenzen, scheint das Updating besonders relevant für das Erlernen der Zahlenfolge zu sein. Es nimmt damit auch Einfluss auf die weitere mathematische Entwicklung. Steht die Zahlenfolge flexibel und automatisiert zur Verfügung, ist in der weiteren Entwicklung bei der Verknüpfung von Zahlwörtern mit Mengen und/oder Mengenrelationen kein Updating mehr notwendig und Shifting und Inhibition scheinen nun für den Aufbau eines konzeptuellen Zahlverständnisses an Bedeutung zu gewinnen.
Wie zu erwarten hilft ein gutes AGD beim Kopfrechnen
Ein direkter Einfluss des Arbeitsgedächtnisses auf Rechenprozesse zeigt sich bei Kopfrechenaufgaben: Teilergebnisse müssen aufrechterhalten, mathematische Regeln und automatisierte Kernaufgaben aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen und irrelevante Informationen gehemmt werden. Sowohl zentral-exekutive Funktionen als auch die phonologische Schleife haben nachgewiesenermaßen starken Einfluss auf das Kopfrechnen von Additionsaufgaben. Stellt man Kindern der dritten und vierten Klasse gleichzeitig mit Rechenaufgaben auch noch artikulatorische Unterdrückungsaufgaben (inneres Sprechen oder Denken wird durch die ständige Artikulation irrelevanter Wörter oder Silben erschwert), nehmen die hierdurch erzeugten störenden Effekte ab, wenn durch ausgiebiges Üben einfache Rechenaufgaben automatisiert wurden.
Folgerungen für die Förderung rechenschwacher Kinder
Zuerst die gute Nachricht:
Das Arbeitsgedächtnis ist an allen kognitiven Prozessen beteiligt. Daher trainiert und fördert das Lösen jeder Rechenaufgaben und jegliche Form von Üben auch immer zwangsläufig das Arbeitsgedächtnis.
Nun zu den für manche vielleicht eher unangenehmen Nachrichten:
- Auch das Arbeitsgedächtnis muss bei rechenschwachen Kindern in die Förderdiagnostik einbezogen werden
Da sehr spezifische Zusammenhänge zwischen einzelnen Funktionen des Arbeitsgedächtnisses und bestimmten mathematischen Fähigkeiten oder bestimmten Gruppen von Kindern mit Rechenschwächen gefunden wurden, ist es im Rahmen der Förderdiagnostik bei rechenschwachen Kindern angezeigt, das Arbeitsgedächtnis mit seinen verschiedenen Funktionen zu überprüfen. Kopfrechenaufgaben scheinen ein probates Mittel zu sein, um die Funktionstüchtigkeit des Arbeitsgedächtnisses als solches einzuschätzen. Wer hierzu Anregungen und Bewertungshilfen sucht, findet sie in einzelnen Intelligenztests und in fast allen Rechentests für das Schulalter. Um die einzelnen Steuerungsprozesses der zentralen Exekutive zu untersuchen, stehen folgende Prüfaufgaben teilweise auch in psychologischen Tests zur Verfügung:
- Updating: Zahlen rückwärts nachsprechen (z.B. Subtest „Zahlen nachsprechen“ und Subtest „Buchstaben-Zahlen-Folgen“ in Wechsler Intelligence Scale for Children, WISC IV und WISC V)
- Shifting: Vergleich der Arbeitszeit und der Fehlerzahl bei einheitlichen und gemischten Rechenaufgaben (Addition und Subtraktion)
- Inhibition: Zu farbig falsch dargestellten Objekten wie beispielweise Früchte oder Gemüse soll möglichst schnell die korrekte Farbe der Objekte genannt werden (z.B. Subtest „Schnelles Benennen von Farben“ in Bielefelder Screening zur Früherfassung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, BISC)
Die phonologische Schleife lässt sich leicht durch das Nachsprechen von Zahlenreihen, Silben oder Wörtern untersuchen. Aufgaben zur Prüfung der visuell-räumlichen Wiederholungsschleife findet man zum Beispiel im KAB-C II (Subtest „Wiedererkennen von Gesichtern“ oder Subtest „Handbewegungen“). Hier werden dem Kind mehrere Fotos von einzelnen Personen gezeigt, die auf einem Gruppenfoto wiederzufinden sind, oder es werden Handbewegungen vorgeführt, die nachgeahmt werden müssen.
- Automatisierung muss durch viel Üben erreicht werden
Die Automatisierung möglichst vieler Rechenprozesse durch ausreichend viel Üben entlastet das Arbeitsgedächtnis, indem sie bestimmte Steuerungs- und Kontrollprozesse der zentralen Exekutive überflüssig macht. Das Lösen von Rechenaufgaben wird schneller und der Erwerb weiterer mathematischer Fähigkeiten gelingt leichter. Wieder einmal zeigt sich, wie wichtig und unverzichtbar das zugegebenermaßen wenig abwechslungsreiche, sture Einüben gewonnener Fähigkeiten ist. Es wird völlig zu Unrecht von vielen SchülerInnen, Lehrkräften, Eltern, Therapeutinnen und Schulbuchautoren gering geschätzt.
In Teil II des Beitrages „Arbeitsgedächtnis und Rechnen“ erfahren Sie demnächst, welche Antworten die Wissenschaftler Sarah Schulze und Jan Kuhl auf die Frage gefunden haben: Wie wirksam ist ein in die mathematische Lernförderung integriertes Training des Arbeitsgedächtnisses?
Literatur:
Schulze, S. u. J. Kuhl (2019): Integration von Arbeitsgedächtnistrainings in die mathematische Lernförderung. Lernen und Lernstörungen 8 (1), S. 47-59
Hasselhorn, M. u. C. Zoelch (Hg.) (2012). Funktionsdiagnostik des Arbeitsgedächtnisses. Göttingen: Hogrefe
Schuchardt, K. u. C. Mähler (2016): Exekutive Funktionen bei Kindern mit Lernstörungen. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 65, S. 389-405