In einer Pilotstudie wurde versucht, AD(H)S und LRS bei Kindern gleichzeitig zu therapieren. 76 Prozent der Kinder mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten leiden gleichzeitig unter Aufmerksamkeitsstörungen. Das sagen uns zumindest einschlägige Studien. Dass dieses gleichzeitige Auftreten von Lese-Rechtschreibproblemen und Unaufmerksamkeit eine besondere Belastung für die Kinder und ihre Familien darstellt, sagt uns schon der normale Menschenverstand. Studien belegen dies ebenfalls. Bereits im Vorschulalter ist die Entwicklung dieser Kinder belastet; später haben sie vermehrt mit Schulproblemen zu kämpfen und müssen beispielsweise häufiger eine Klasse wiederholen. Über Ängste, Depressionen, externalisierende Verhaltensauffälligkeiten, eine verminderte Anstrengungsbereitschaft und Lernmotivation sowie ein niedrigeres Fähigkeitsselbstkonzept (sie halten sich z.B. für schlechte Schüler) wird ebenfalls berichtet. Das Familienleben und die Eltern-Kind-Beziehung leiden – wie leicht nachzuvollziehen ist – besonders stark unter dieser Mehrfachbelastung.

Es ist noch nicht abschließend geklärt, warum Schriftsprach- und Aufmerksamkeitsstörungen überzufällig häufig gemeinsam auftreten . Allerdings gibt es gut belegte Hinweise dafür, dass Kinder mit beiden Schwierigkeiten breitere kognitive Funktionsdefizite aufweisen als diejenigen, die ausschließlich nur unter einer der beiden leiden. Von Funktionseinschränkungen in der zentralen Exekutive (Arbeitsgedächtnis) und von Beeinträchtigungen in der Verarbeitungsgeschwindigkeit ist in diesem Zusammenhang immer wieder die Rede.

Das Trainingsprogramm

Aufgrund der häufigen Komorbidität könnten Interventionsprogramme, die beide Probleme gleichzeitig angehen, durchaus sinnvoll und und äußerst hilfreich sein. Das dachten sich auch Wissenschaftlerinnen vom Institut für Psychologie der Universität Hildesheim. Neben der medikamtentösen Behandlung der Aufmerksamkeitsstörung, die sich teilweise auch günstig auf die Lese-Rechtschreibleistungen auswirkt, sind keine weiteren Möglichkeiten zur gleichzeitigen Behandlung beider Störungsbilder bekannt. Deshalb konzipierten Julia Koenigs, Kirsten Schuchardt und Claudia Mähler ein entsprechendes Trainingsprogramm und überprüften es auch gleich auf seine Wirksamkeit. Das Programm bestand aus aus einem Kinder- und einem Elterntraining. Das Kindertraining fand wöchentlich einmal in Kleingruppen von zwei bis vier Kindern statt und jede Sitzung dauerte 90 Minuten. Durchgeführt wurde es von jeweils zwei geschulten Trainerinnen und Trainern anhand eines standardisierten Manuals unter regelmäßiger Supervision durch eine Psychologische Psychotherapeutin. Im Kindertraining wurden Elemente zur Förderung der Aufmerksamkeit mit Aufgaben zur Förderung des Lesens und Rechtschreibens (angelehnt an das „Lautgetreue Rechtschreiben“ von Reuter-Liehr) verbunden. Darüber hinaus wurden jedoch auch noch Übungen zur Förderung des Selbstkonzeptes und der Stressbewältigung eingebaut. Im Elterntraining ging es in erster Linie um die Vermittlung eines adäquaten Umgangs mit den Kindern in schwierigen Situationen wie z.B. in der Hausaufgabensituation sowie um den Austausch mit anderen betroffenen Eltern.

Es wäre nun wirklich fast eine Sensation, hätte dieses eigentlich doch recht kurze Trainingsprogramm Erfolg. Bisher ging die Fachwelt eigentlich davon aus, dass mit der Intensität auch die Wirksamkeit von Lese-Rechtschreibförderprogrammen steigt. 20 Trainingseinheiten werden als ein Minimum angesehen. Die Effektivität hängt nach bisheriger Auffassung außerdem davon ab, dass ausgebildete Legasthenietherapeuten die Förderung in hohem Maße auf die individuellen Lese- und Rechtschreibprobleme der zu fördernden Kinder abstimmen (Breitenbach 2012, Breitenbach/Weiland 2010). Eine erfolgreiche Behandlung von ADHS ist nach Lehrmeinung immer noch die multimodalen Therapie, bestehend aus medikamentöser Behandlung, Verhaltenstherapie und Eltertraining (Fröhlich et al. 2013, Steinhausen et al. 2009).

Die Wirksamkeitsstudie

Die Autorinnen wollten bei der Evaluation mit Hilfe von Fragebögen herausfinden, wie zufrieden Eltern und Kinder mit dem Trainingsprogramm sind und welche subjektiven Veränderungen sie wahrnehmen. Darüber hinaus suchten sie mit standardisierten Testverfahren nach Verbesserungen der ADHS-Symptomatik, der Lese-Rechtschreibleistung und des entsprechenden Fähigkeitsselbstkonzeptes. Selbstverständlich wurden auch noch die Intelligenz und die mathematischen Kompetenzen der Kinder erfasst.

21 Zweit- und Drittklässler (71 Prozent Jungen und 29 Prozent Mädchen) im Alter von sieben bis zehn Jahren nahmen an der Studie teil. Ihr forschungsmethodisches Vorgehen bestand aus einem Vorher-Nachher-Vergleich der interessierenden Verhaltensweisen im Rahmen eines Wartekontrollgruppendesigns. Geplant waren deshalb drei Messzeitpunkte: ein erster Messzeitpunkt zu Beginn der Wartezeit; ein zweiter nach 10 Wochen zu Beginn des Trainings und ein dritter nach Ende des Trainings. Eine Follow-up-Messung nach etwa einem halben Jahr, um die Stabilität der möglichen Veränderungen zu erfassen, wurde nicht durchgeführt.

Bescheidene Ergebnisse

Wie aufgrund der bisherigen Erfahrung mit der Therapie von aufmerksamkeitgestörten- und lese-rechtschreibschwachen Kindern zu erwarten war, fielen die Ergebisse bescheiden aus. Die Autorinnen berichten zwar über eine hohe Zufriedenheit mit dem Training sowohl von Seiten der Kinder als auch der Eltern. Den zeitlichen und organisatorischen Aufwand beurteilten die Eltern als angemessen und die Kinder gingen gerne zu den Trainingsstunden. Obwohl 95 Prozent der Kinder behaupteten, durch das Training viel gelernt zu haben, gaben jedoch nur knapp die Hälfte an, die gelernten Strategien im Alltag anzuwenden; das altbekannte und aus vielen Studien vertraute Transferproblem. Die Eltern beobachteten einen bedeutsamen Rückgang der ADHS-Symptomatik, besonders eine Reduktion der Unaufmerksamkeit. Bei Hyperaktivität und Impulsivität konnten nur tendenzielle, nicht signifikante Verbesserungen festgestellt werden.

Was die Verbesserungen bei der Schriftsprache anbelangt, ergaben sich uneinheitliche bis widersprüchliche Ergebnisse. Die Eltern beobachteten deutliche Verbesserungen beim Rechtschreiben, was durch die Schulleistungstests nicht bestätigt werden konnte. Das Lesen, gemessen mit einem Lesetest, verbesserte sich zwar über die Zeit hinweg signifikant, aber gleichermaßen während der Wartezeit und während der Förderzeit. Die gefundenen Verbesserungen im Lesen konnten also nicht auf das Training zurückgeführt werden. Die Eltern bestätigten die Zunahme der Leskompetenz bei ihren Kinder nicht. Das Selbstkonzept der Kinder bezüglich Lesen und Rechtschreiben verbesserte sich ebenfalls nur tendenziell und nicht signifikant.

Abschließende Bewertung

Trotz dieser Ergebnisse betrachten die Autorinnen ihre Untersuchung als eine ermutigende Pilotstudie und empfehlen weitere Forschungsbemühungen. In Anbetracht der vorgelegten Ergebnisse zur Wirksamkeit des Trainings hält sich meine Ermutigung allerdings in Grenzen. Selbst wenn man die offensichtlichen Mängel der Studie wie etwa die zu geringe Stichprobengröße und die fehlende Follow-up-Messung behebt, wären meine Erwartungen und Hoffnungen bezüglich eines solchen kombinierten Trainingsprogramms eher zurückhaltend und bescheiden. Zwei so komplexe und „hartnäckige“ Störungen wie die Lese-Rechtschreibschwäche und die Aufmerksamkeitsstörung, die zudem auch nach derzeitigem Wissensstand keine gemeinsamen Ursachen besitzen, sondern eher additiv auftreten, lassen sich wohl kaum in 10 Wochen mit 20 Therapiestunden erfolgreich behandeln. Ich will nicht so recht an die „eierlegende Wollmilchsau“ glauben, aber Erfahrung und Vorwissen verstellen ja manchmal auch den Blick für ungewöhnliche und überraschende Neuerungen.

Ich denke eher, dass eine intensive und fachmännische Förderung und Behandlung nur eines der beiden Störungsbilder, obwohl beide als behandlungsbedürftig diagnostiziert sind, angezeigt ist. Denn obwohl keine gemeinsamen Ursachen bekannt sind, existieren doch Wechselwirkungen zwischen den beiden Störungsbildern. Eine verbesserte Aufmerksamkeitssteuerung bringt erfahrungsgemäß auch verbesserte schulische Leistungen mit sich und bei einer intensiven Lese- und Rechtschreibförderung wird zwangsläufig und automatisch auch die Aufmerksamkeitssteuerung mittrainiert. Aber ich lasse mich natürlich durch weitere Forschung gerne eines Besseren belehren.

Literatur

Koenigs, J., Schuchardt, K. und C. Mähler (2019): Wirksamkeit eines kombinierten Lese-Rechtschreib- und Aufmerksamkeitstrainings. In: Lernen und Lernstörungen 8(1), S. 21-32

Breitenbach, E. (2012): Intensivförderung von lese-rechtschreibschwachen Kindern in der Grundschule. In: Empirische Sonderpädagogik 4, 167-182

Steinhausen, C., Rothenberger, A. u. M. Döpfner (Hg.) (2009): Handbuch ADHS. Stuttgart: Kohlhammer (Eine überarbeitete 2. Auflage erscheint im Juni 2020)

Weitere interessante Literatur

Ise, E., Engel, R.R. & Schulte-Körne, G. (2012): Was hilft bei der Lese-Rechtschreibstörung? Ergebnisse einer Metaanalyse zur Wirksamkeit deutschsprachiger Förderansätze. In: Kind und Entwicklung, 21, 122-136.